Johanna Küther

„Mir war gar nicht klar, dass jüngere Menschen sich überhaupt einsam fühlen können.“

Eine Erkenntnis, die Ruth Jacoby im Zuhörkiosk Bramfeld gewonnen hat. 2023 hat sie die zweite Anlaufstelle dieser Art in Hamburg initiiert. Damit unterstützten sie und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter nicht nur die Menschen in ihrem Stadtteil, sondern können auch für sich selbst aus dem Kontakt mit ihnen Wertvolles mitnehmen.

Das Plätschern eines Dekobrunnens, das Geklapper von Kisten, die verräumt werden, die Kaffeemaschine beim Bäcker – sonst ist es noch ruhig in dem Einkaufszentrum im Nordosten Hamburgs. Punkt 10 Uhr öffnet Ruth Jacoby den Zuhörkiosk im Untergeschoss. Zwischen Supermarkt, Einrichtungsladen und Drogerie räumt sie Stehtisch und Schild in den Gang, stellt Flyer auf, legt Kissen auf die beiden Korbstühle, die zum Verweilen einladen. An diesem Mittwochvormittag ist es ruhig. „Wenn beim Bäcker keine Schlange ist, dann ist wirklich tote Hose“, sagt sie. Das ist nicht immer so. „Teilweise müssen wir Leute auch vertrösten, ein anderes Mal wiederzukommen.“ Damit diese immer einen Ansprechpartner oder eine Ansprechpartnerin haben, sind im Zuhörkiosk montags bis samstags Ehrenamtliche im Einsatz – mit einem offenen Ohr. 

Ruth Jacoby im Gespräch.

„Einfach mal zuhören, diesen Raum anbieten, wo gibt es das heutzutage noch?“, fragt Ruth Jacoby. 2022 kam die 74-Jährige am Zuhörkiosk in Eimsbüttel, dem ersten dieser Art in Hamburg, vorbei und dachte sich: „Mensch, das müsste es doch auch in anderen Stadtteilen geben“. Gedacht, getan, das Pendant in Bramfeld hat sie initiiert und weitere Interessierte gewonnen. Seit März 2023 ist der Zuhörkiosk hier vor Ort und wird von inzwischen fast 40 ehrenamtlichen Teammitgliedern betrieben. 

Logbuch persönlicher Schicksale

„Eine Stunde nettes Geklöne mit Dame ohne Anliegen“ steht im Logbuch des Kiosks. Hier tragen die Ehrenamtlichen stichwortartig die Themen ihrer Gespräche für die nächste Schicht ein. Aber auch von einem Mann um die 70 liest man dort, der von traumatischen Erlebnissen aus seiner Kindheit berichtet. Die Themen sind vielfältig: persönliche Schicksale, Flucht und Vertreibung, aktuelle Belastungssituationen wie Krankheit, Depressionen, Verlust eines nahestehenden Menschen, Probleme mit dem Partner, der Familie, – und eben auch immer wieder Einsamkeit – auch bei Jüngeren.  

„Mir war gar nicht klar, dass jüngere Menschen sich überhaupt einsam fühlen können. Sie sind doch mit der ganzen Welt über Social Media verbunden, haben dort tausende Freunde. Aber der richtige zwischenmenschliche Kontakt fehlt eben“, sagt die ehemalige Beratungslehrerin. „Das ist nur die Illusion von nicht einsam sein.“ Aber auch ältere Menschen berichten von Einsamkeit. Ein Herr kommt im Gespräch mit ihr darauf, dass er gerne mit anderen mal wieder etwas spielen würde. Sie vermittelt den Kontakt. Was sie bewegt? „Wie erreichen wir diejenigen, die nicht mehr rauskommen? Einsamkeit macht ja auch depressiv, dann ist man noch viel weniger in der Lage, in die Gänge zu kommen. Es ist also noch Luft nach oben. Mal ganz abgesehen von den Menschen, die körperlich gar nicht in der Lage sind, ihre Wohnung zu verlassen.“  

Vom Mut sich zu öffnen

Wie auch immer die Problemlage aussieht, die Ehrenamtlichen beobachten immer wieder: „Themen, die besonders belastend oder sehr intim sind, werden bei vertrauten Menschen oft nicht angesprochen. Wenn ich mich im Zuhörkiosk einem ganz fremden Menschen öffne, wird mir allein durch das Aussprechen ja oft schon vieles klarer und ich kann selbst vielleicht Wege aus der Situation finden“, erzählt Ruth Jacoby. Dass es viele Menschen große Überwindung kostet, sich Fremden anzuvertrauen, spürt sie hier oft. Manchmal gehen Interessierte mehrmals an unterschiedlichen Tagen vorbei, bevor sie sich trauen, stehen zu bleiben. Wenn sie die Vorbeigehenden dann anspricht, hört sie oft: „‚Ach, ich habe ja gar nichts zu erzählen, aber…‘ und dann sprudelt es oft schon los“, sagt sie und lacht. „Andere, die haben sich das so vorgenommen, die schießen hier regelrecht rein, setzen sich und kommen gleich zur Sache.“ 

Jubiläum: Das Team vom Zuhörkiosk Bramfeld feiert Geburtstag.

Wenn das Ehrenamt bereichert

Immer wieder nickt Ruth Jacoby freundlich Vorbeigehenden zu oder grüßt die Mitarbeitenden der umliegenden Läden. „Es belebt mich unheimlich mit Menschen in Kontakt zu kommen“, sagt sie, die selbst seit 30 Jahren in Bramfeld wohnt. „Mit diesem Projekt habe ich mir den Wunsch erfüllt, in diesem Stadtteil noch mehr anzukommen. Es kommt auf die Menschen an, die man hier kennt. Das macht dieses Gefühl von zuhause sein aus.“ 

Und so gibt ihr das Engagement in diesem Ehrenamt eine neue Verbindung und Vernetzung mit den Menschen in ihrem Wohnumfeld, und darüber empfindet sie eine große Dankbarkeit. „Da hat sich mir jemand anvertraut und erzählt einer Wildfremden etwas Intimes aus dem eigenen Leben. Das ist etwas ganz Wertvolles. Es erfüllt mich richtig, wenn ein Mensch mir sein Herz ausschüttet und ein Stück entlastet hier wieder raus geht. Dann gehe auch ich, trotz schwerer Themen, beschenkt nach Hause.“ 

Einsamkeitsreport 2024: Wie einsam ist Deutschland?

Gerade jetzt in den dunklen Wintermonaten fühlen sich viele Menschen verstärkt einsam oder allein. Unabhängig von der Jahreszeit ist Einsamkeit mittlerweile ein großes gesellschaftliches Phänomen – weltweit und über alle Altersgruppen hinweg. Und das kann auf Dauer krank machen. Der erste Einsamkeitsreport der TK widmet sich dem Thema Einsamkeit und beschäftigt sich mit den Fragen: Wie steht es genau um das Einsamkeitsempfinden der Menschen in Deutschland? Welchen Einfluss hat Einsamkeit auf die Gesundheit? Und was können Betroffene tun, um aus der Einsamkeit wieder herauszukommen? Hier gibt es weitere Informationen.



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