Jannik Maczey

„Das Gesundheitswesen ist ein Seismograf für die Demokratie“

Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder forscht unter anderem zum Zusammenhang eines gut funktionierenden Gesundheitssystems und einer stabilen Demokratie. Im Interview erklärt er, warum Probleme im Gesundheitswesen auch die Demokratie gefährden können.

Warum ist gerade das Gesundheitswesen so zentral für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Staat?

Gesundheit ist für jeden Menschen von entscheidender Bedeutung. Und das Gesundheitswesen ist ein Ort, an dem man direkt und unmittelbar mit Institutionen in Kontakt kommt, die dem staatlichen Sektor zugeordnet werden. Hier sieht man, ob etwas funktioniert oder nicht. Und wenn es nicht funktioniert, haben die Menschen das Gefühl, dass die Weichen falsch gestellt sind und die Politik nicht verstanden hat, was ihnen wirklich wichtig ist. Schließlich ist die Gesundheit die elementarste Form des Wohlbefindens. Die Prioritäten wären also falsch gesetzt und das System nicht in der Lage die grundsätzlichsten Probleme der Bürgerinnen und Bürger zu erkennen. Das Gesundheitswesen ist insofern ein Seismograf für den Zustand der Demokratie insgesamt.

Prof. Wolfgang Schroeder

Der TK-Meinungspuls zeigt, dass die Unzufriedenheit mit dem Gesundheitswesen in den letzten Jahren stark gestiegen ist. Welche Folgen kann das haben?

Dieser Rückgang des Vertrauens in das Gesundheitswesen kann in einen Vertrauensverlust in das politische System umschlagen. Weil die Fürsorge und Vorsorge im Gesundheitswesen für die Bürgerinnen und Bürger eklatant wichtig sind, hat eine Unzufriedenheit mit dem Gesundheitssystem direkt negative Auswirkungen auf die Bewertung des politischen Systems. Eine Unzufriedenheit mit dem Gesundheitswesen in Demokratien kann populistische Parteien und Kräfte stärken.

Erkennbar war das zum Beispiel beim Brexit-Referendum in Großbritannien. Das britische Gesundheitssystem war in keinem guten Zustand. Das haben sich die EU-Gegner zunutze gemacht, denn auch beim Populismus gibt es ein Körnchen Wahrheit. Die Brexit-Kampagne hatte dann versprochen: Das Geld, das aktuell nach Brüssel geht, wird in den NHS investiert. Hinterher konnten die Bürgerinnen und Bürger erkennen, dass das nicht passiert ist. Das war eine klare Wählertäuschung und basierte auf Fake News und Verschwörungstheorien, die an vorhandene Ressentiments in der Bevölkerung anschließen sollten: „Wir füttern das Brüsseler Monster, stattdessen sollten wir unser eigenes, nationales Gesundheitssystem füttern“. Da wurden Zusammenhänge hergestellt, die so gar nicht existieren.

Prof. Wolfgang Schroeder bei der Vorstellung des TK-Meinungspuls 2025 mit Inga Laboga, Dr. Jens Baas und Peter Wendt (v. l. n. r.)

Wie steht das deutsche Gesundheitswesen im internationalen Vergleich dar?

Wir haben im internationalen Vergleich zum Beispiel eine sehr hohe Zahl an Arztbesuchen oder an Krankenhausbetten. Verglichen mit dem Anfang der 1990er Jahre haben wir heute 60 Prozent mehr Ärztinnen und Ärzte. Auf der anderen Seite haben wir laute Klagen über den Ärztemangel. Durch intelligente Weichenstellungen gibt es Möglichkeiten, die vorhandenen Ressourcen sinnvoller zu verteilen und so zu einer höheren Effizienz zu kommen. Dieses Wirksamkeitsdefizit wird man wahrscheinlich in jedem Gesundheitswesen finden, in Deutschland ist es aber – wie auch das Gesundheitssystem insgesamt – hochentwickelt. Wir haben eines der teuersten Gesundheitswesen der Welt, das teuerste in Europa – wir geben gegenwärtig mehr als zwölf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Gesundheit aus. Trotzdem sind die Ergebnisse leider in vielen Bereichen nur mittelmäßig.

Worauf sollte die deutsche Politik achten, damit das Gesundheitssystem in Zukunft nicht von einem stabilisierenden Faktor für die Demokratie zu einem destabilisierenden Einfluss wird?

Es gibt im deutschen Gesundheitswesen gleichzeitig eine Überversorgung, eine Unterversorgung und eine Fehlversorgung. Diese Diagnose ist seit langem klar. Das aber jetzt in eine andere, bessere Politik zu übersetzen ist nicht ganz einfach. Unser System lebt vom universellen Anspruch der Bürgerinnen und Bürger: Jede und jeder hat Anspruch auf die Leistungen, die für die Gesundheit notwendig sind. Gleichzeitig muss man schauen, wie man die wachsenden Bedarfe, die insbesondere durch medizinisch-technischen Fortschritt entstehen, auch zukünftig so finanzieren kann, dass sie allen Menschen zugänglich sind.

Zur Person

Wolfgang Schroeder ist Politikwissenschaftler und Professor für das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Außerdem ist er Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin. Er befasst sich in seinen Forschungsarbeiten unter anderem mit dem Strukturwandel des Sozialstaates. Neben der Wissenschaft war und ist er auch in vielen verantwortlichen Positionen des Staates und der organisierten Zivilgesellschaft engagiert: Er war Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Soziales, Frauen und Familie des Landes Brandenburg (2009-2014), Mitglied im Rat der Arbeitswelt (2022-2024) und ist Vorsitzender des Progressiven Zentrums (seit 2022).



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