In der Regel verläuft die Versorgung in unserem Gesundheitssystem nach Plan. Aber manchmal kommt es zu unerwünschten Ereignissen. Hier kommen Fehlerberichts- und Lernsysteme ins Spiel. Sie funktionieren wie ein anonymer Briefkasten, in den Mitarbeitende Schwachpunkte und Risiken in Arbeitsabläufen melden können. Wir haben mit Dr. Jens Büttner, Ärztlicher Leiter des Rettungsdienstes der Stadt Darmstadt und des Landkreises Darmstadt-Dieburg, gesprochen. Er hat die Einführung des hessischen CIRS im Rettungsdienst initiiert.
Warum ist ein CIRS im Rettungsdienst wichtig?
Fehlerberichts- und Lernsysteme stammen ursprünglich aus der Luftfahrt. Im Gesundheitswesen sind sie heute insbesondere im stationären, aber auch zunehmend im ambulanten Bereich etabliert. Dort fördern sie einen sachlichen und konstruktiven Umgang mit Fehlern, bei dem die Erarbeitung von Lösungen im Vordergrund steht. Im präklinischen Bereich gab es lange kein vergleichbares System, obwohl gerade der Rettungsdienst sehr davon profitiert.
Dr. Jens Büttner hat das hessische CIRS im Rettungsdienst initiiert.
Wie wurde das CIRS in Hessen eingeführt?
In Hessen starteten wir zunächst in sechs Rettungsdienstbereichen mit einem Pilotprojekt. Zum Jahresbeginn 2025 haben wir das CIRS landesweit ausgerollt. Heute können alle Mitarbeitenden anonym und ohne Sanktionen befürchten zu müssen, kritische Ereignisse oder Beinahe-Schäden melden, die in den Rettungsdiensteinsätzen auftreten. Je mehr Personen beteiligt sind, desto besser: Es werden mehr Fallberichte eingereicht und mehr Mitarbeitende haben die Möglichkeit, aus Fehlern zu lernen. Jede Meldung, die auch nur einen kleinen Fehler verhindert, ist ein großer Erfolg. Da wir für unser CIRS dieselbe Software nutzen wie die Kolleginnen und Kollegen in Bayern, denken wir zurzeit darüber nach, die Fälle aus beiden Ländern in unserem Portal zusammenzuführen. So könnten wir auch aus den Fehlern in Bayern lernen und gegebenenfalls die eigenen Abläufe anpassen, bevor diese Fehler bei uns ebenfalls auftreten.
Was sind Hürden für Mitarbeitende, kritische Ereignisse zu melden?
Auch wenn in den Krankenhäusern und zunehmend auch im ambulanten Bereich Fehlerberichtssysteme mittlerweile etabliert sind, muss aus meiner Sicht gerade im stark hierarchisch strukturierten medizinischen Bereich das Bewusstsein noch wachsen, dass man einen Fehler machen und melden kann, ohne dass dies Auswirkungen für einzelne Personen hat. Wer meint, aus einer CIRS-Meldung würde eine Schelte oder Bestrafung hervorgehen, hat das System nicht verstanden.
Wie bleiben Mitarbeitende anonym, die einen Fall melden?
Im ersten Schritt anonymisiert ein externer Dienstleister alle Meldungen. Das ist ein ganz wichtiger Faktor für ein funktionierendes CIRS. Denn es spielt überhaupt keine Rolle, wer wo den Fehler gemacht hat. Wichtig ist nur, den Fehler zu erkennen, damit er kein zweites Mal auftritt. Nach der Anonymisierung geht die Meldung wieder zurück an uns. Ein Analyse- und Auswerte-Team, das sich aus Mitarbeitenden des Rettungsdienstes aller Hierarchieebenen zusammensetzt, beschäftigt sich jetzt mit der – übrigens immer wieder sehr spannenden – Frage: Welche Schwachstellen haben dazu geführt, dass dieser Fehler passiert ist? Bestehen Probleme in der Führung? Haben Arbeitsbelastung und Zeitdruck, eine mangelhafte Kommunikation oder Aufmerksamkeit, Bedienungsfehler oder defektes Material oder Geräte den Fehler ausgelöst?
Jede Meldung, die auch nur einen kleinen Fehler verhindert, ist ein großer Erfolg.
Wenn alle Fragen rund um den Fall beantwortet werden konnten, formuliert das Team die Fallbeschreibung mitsamt einer Empfehlung, wenn nicht sogar einer neuen Regelung, die die Versorgung sicherer machen soll. Dann veröffentlichen wir die Meldung im CIRS-Portal. Bis heute wurde mir kein Fall berichtet, in dem direkte Rückschlüsse gezogen werden konnten.
Können Sie ein Beispiel für einen Fallbericht nennen?
Ein Notarztteam hatte vor einiger Zeit einen Einsatz in einem anderem Rettungsdienstbereich. Einem Patienten oder einer Patientin sollten vor Ort Medikamente per Infusion verabreicht werden. Dabei stellte sich heraus, dass in der Infusionsleitung das Rückschlagventil verloren gegangen war. Fehlt es, ist nicht sichergestellt, dass die Infusionslösung nur in Richtung des Patienten fließt, und es können erhebliche Komplikationen auftreten. Seitdem verwenden wir landesweit einheitlich Infusionsschläuche mit fest eingebautem Rückschlagsystem.
Wie akzeptiert ist das CIRS bei den Mitarbeitenden?
Unser System wird sehr gut frequentiert. Die Zahl der öffentlich einsehbaren Berichte in unserem Portal ist seit dem landesweiten Rollout auf etwa 50 angewachsen. Die Bereitschaft, mitzumachen, ist bei allen hoch. Den Mitarbeitenden ist bewusst, dass sie mit jeder Meldung, selbst wenn sie nur eine vermeintliche Kleinigkeit im Prozessablauf betrifft, eine Kettenreaktion vermeiden können, die zu einer Katastrophe führen könnte. Dass die Kolleginnen und Kollegen dies verinnerlicht haben, ist für mich überhaupt der größte Erfolg des gesamten Systems. Das Vertrauen in das System ist da und was alle eint, ist das Interesse, etwas zu bewegen.
Zur Person
Dr. Jens Büttner ist Geschäftsführender Oberarzt der Klinik für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin am Agaplesion Elisabethenstift in Darmstadt und zusätzlich Ärztlicher Leiter des Rettungsdienstes der Stadt Darmstadt und des Landkreises Darmstadt-Dieburg. Im Jahr 2015 hat er das hessische CIRS (Critical Incident Reporting System) im Rettungsdienst initiiert, das 2022 zunächst im Rahmen eines Pilotprojekts umgesetzt und in diesem Jahr landesweit ausgerollt wurde.
Eine ausführliche Fassung des Interviews ist hier abrufbar.