„Der interdisziplinäre Blick auf die Patientinnen und Patienten ist ein Riesengewinn“, sagt Dr. Sabine Schneider, Fachärztin am Schmerz- und Palliativzentrum Rhein-Main in Wiesbaden. „Vielen wird zu einer Operation geraten, weil die behandelnden Mediziner keine andere Alternative mehr sehen. Wenn wir mit unserem Team dann die individuelle Situation der Patientinnen und Patienten aus verschiedenen fachlichen Perspektiven betrachten, finden wir sehr häufig neue Aspekte, die eine ganz wesentliche Rolle für die Schmerzen und Beschwerden spielen. So ist dann sehr oft eine konventionelle Behandlung möglich“, so die Ärztin.
Oft kommen Menschen in ihre Sprechstunde, die operiert wurden und auch danach weiterhin Beschwerden haben. „Das bestärkt uns darin, die Situation unserer Patientinnen und Patienten umfassender anzuschauen. Im Gespräch und in den klinischen Untersuchungen kommen wir vielen Dingen auf die Spur, die auf einem Röntgenbild nicht abgebildet werden könnten“, sagt Schneider.
Interdisziplinäre Anamnese
Alle Patientinnen und Patienten, die im Schmerzzentrum vor einer angedachten Operation eine Zweitmeinung einholen, absolvieren zunächst drei Anamnese-Gespräche. Ihre gesamte komplexe Situation mit medizinischer Vorgeschichte und wichtigen Lebensumständen wird im Austausch mit einem Schmerzmediziner, einem Psychologen sowie einem Physiotherapeuten im Detail besprochen. Hinzu kommt die intensive körperliche Untersuchung. Im Anschluss tauscht sich das Behandlungsteam über die Untersuchungsergebnisse aus, bevor mögliche Behandlungsoptionen vorgeschlagen werden. Nur sehr selten ist das eine Operation.
Einer der Patienten im Wiesbadener Schmerzzentrum ist ein ehemaliger Profi-Radsportler, der nach dem Ende seiner sportlichen Karriere auf einen Bürojob umsattelte – ein Wechsel von einem Extrem ins andere. Der Patient saß im neuen Job stundenlang am PC, legte 30 Kilogramm an Gewicht zu, entwickelte eine Fehlhaltung und erlitt dadurch einen Bandscheibenvorfall. „Unser Patient fürchtete sich vor jeder Bewegung, weil ihm jede körperliche Aktivität starke Schmerzen bereitet hat“, schildert Schneider. Am Ende musste er nicht operiert werden, ihm halfen viel Geduld und ein sportliches Trainingsprogramm für den Muskelaufbau.
Eine andere Patientin sollte aufgrund einer leichten Verschiebung der Wirbelsäulenknochen operiert werden. Privat war sie durch die Pflege ihres schwer erkrankten Vaters körperlich und psychisch stark belastet. Als durch die Kontaktbeschränkungen in der Coronapandemie eigene Aktivtäten wie Sport und Treffen mit Freunden wegbrachen, kamen eine erhebliche Gewichtszunahme und eine diagnostizierte Depression hinzu. Das Team des Schmerzzentrums schlug ein Bewegungsprogramm zur Kräftigung der Rückenmuskulatur und zum besseren Umgang mit Stress ein Entspannungstraining vor.
Aktive Mitarbeit der Patientinnen und Patienten
„Unsere Patientin hat unglaublich mitgemacht, ihre Muskulatur gekräftigt, wieder Vertrauen in ihren Körper bekommen und parallel eine begleitende Psychotherapie gemacht. Es war absolut bewegend und berührend zu erleben, wie sie wieder Handlungsfähigkeit erlangte und Oberwasser bekam, obwohl sich ihre familiäre Situation nicht verändert hatte“, sagt Schneider.
Beide Fälle zeigen: Auf dem Weg zur Schmerzfreiheit und neuen Beweglichkeit ist bei Rücken- aber auch Gelenkbeschwerden die aktive Mitarbeit der Patientinnen und Patienten – in der Regel über Wochen oder gar Monate – stark gefragt. Denn zur multimodalen Therapie zählen nicht nur medikamentöse Therapien beispielsweise mit Schmerzmitteln, sondern auch langfristige Strategien wie Entspannungstraining, Ernährungsberatung, Physiotherapie, sportliches Training oder Akupunktur. Darüber hinaus braucht es Durchhaltevermögen und Geduld, denn die anfänglichen Schmerzen können sich im Laufe der konventionellen Therapie zunächst durchaus steigern, bevor sie dann nachhaltig gelindert werden.