Vorhandene Potenziale werden nicht genutzt
Bei Sportschuhen unterscheiden Hersteller schon lange zwischen Männer- und Frauenschuhen. Nicht nur die Größe variiert, sondern auch die Form des Fußes sowie die Belastung unter anderem durch unterschiedliche Hüftstellung. Diese banalen Unterschiede werden in der sehr viel komplexeren medizinischen Versorgung aber leider noch viel zu oft und in fast allen Bereichen ausgeblendet.
Warum wir bei der Gendermedizin noch nicht weiter sind, was besser werden muss und welche Chancen eine geschlechtersensible Gesundheitsversorgung eröffnet, habe ich auf unserem Forum mit Dr. Anke Diehl, Chief Transformation Officer des Universitätsklinikums Essen, Dr. Ute Seeland, Vorstandsvorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin e. V. und Professorin Dr. Gertraud Stadler, Leiterin der Geschlechterforschung in der Medizin an der Charité in Berlin erörtert.
Unübersehbar hat die Gendermedizin in den letzten Jahren Fortschritte gemacht, darin waren wir uns mit Ute Seeland einig. Und doch könnte die medizinische Versorgung noch passgenauer auf die Bedarfe der Patientinnen und Patienten angepasst werden. Dass vorhandene Potenziale bisher nicht ausgeschöpft werden, ist nur schwer nachvollziehbar.
Die Chance der Digitalisierung nicht verpassen
Versorgung wird zunehmend datengetrieben gesteuert und somit komplexer. Für eine passgenauere Versorgung ist es also besonders wichtig, zu klären, ob es Geschlechterspezifika bei einem Krankheitsbild gibt oder nicht. Forschungsvorhaben sollten daher Daten zwingend geschlechterspezifisch erheben und analysieren sowie in Berichten regelhaft nach Geschlecht aufschlüsseln. Denn wir haben riesige Lücken bei geschlechterspezifischen Daten und tun zu wenig, um diese systematisch zu schließen – das sehe ich genauso wie Gertraud Stadler. Zudem laufen wir Gefahr, diversitätsbedingte Verzerrungen (Bias) zu verstärken, wenn wir undifferenziert Daten aus der analogen in die digitale Welt übernehmen.
Digitale Versorgungsangebote können nur zielgerichtet wirken, wenn Geschlechteraspekte berücksichtigt werden
Anke Diehl hat zu Recht darauf hingewiesen, dass etwa bei der Entwicklung medizinischer Apps das Geschlecht stärker berücksichtigt werden muss, um die jeweiligen Zielgruppen besser zu erreichen. Auch bei Apps, die bereits auf dem Markt sind, muss ein Blick auf das geschlechtsspezifische Nutzungsverhalten erfolgen, um beurteilen zu können, ob die anvisierten Zielgruppen erreicht, gegebenenfalls Anpassungen notwendig oder gar andere Angebote benötigt werden. So sollte beispielsweise bereits bei der Zulassung von Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) überprüft werden, ob geschlechtsspezifische Aspekte bei der Entwicklung berücksichtigt worden sind.
Die TK richtet daher bei der Vielzahl ihrer digitalen Angebote und Produkte den Blick darauf, wer die Nutzenden sind. Die Anmeldezahlen zu Online-Angeboten wie beispielsweise dem digitalen Postfach oder dem TK-Bonusprogramm sind bezogen auf die Geschlechter sehr ausgewogen verteilt. Die elektronische Patientenakte TK-Safe wird hingegen mit einem Anteil von 57 Prozent häufiger von Männern genutzt.
Ein Blick auf die Nutzungsdaten der online verfügbaren TK-GesundheitsCoaches zeigt hingegen ein deutlich heterogeneres Bild. Ähnlich wie Angebote der Individualprävention (Präventionskurse) in der analogen Welt werden diese Angebote aus dem Bereich der Gesundheitsförderung zu etwa zwei Dritteln von Frauen genutzt. Ein differenzierter Blick auf die Themenschwerpunkte der einzelnen TK-GesundheitsCoaches zeigt lediglich beim TK-NichtraucherCoaching ein ausgewogeneres Geschlechterverhältnis der Nutzenden mit einem Anteil von 44 Prozent männlichen Nutzern.
Es zeigt sich, dass auch bei der Ansprache und in der Ausgestaltung digitaler Angebote eine geschlechtersensible Perspektive selbstverständlich sein sollte. Ein „one size fits all“ hilft hier nicht weiter.
Geschlechterspezifika zu betrachten und die Erkenntnisse für eine zielgerichtetere Versorgung zu nutzen muss von einem „nice-to-have“ zu einem „must-have“ werden.
Grundsätzliche Haltung zum Thema Gendermedizin muss sich ändern
Nicht nur wir in der TK nehmen wahr, dass das Thema geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung ein großes Potenzial für eine passgenauere Versorgung birgt.
Es ist ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einer individualisierten Medizin. Erfreulicherweise ist über alle Bereiche des Gesundheitswesens spürbar, dass die Gendermedizin immer mehr Aufmerksamkeit erfährt und zunehmend Fürsprecherinnen und Fürsprecher gewinnt. Denn auch die Männer profitieren von einer gendersensiblen Medizin, wie die negativen Erfahrungen und verpassten Chancen bei Corona zeigen.
Doch es braucht mehr. Um nachhaltige Fortschritte auf dem Weg zur personalisierten Medizin zu erzielen, müssen nicht nur Genderdaten systematisch erfasst werden, es braucht auch eine andere Haltung. Geschlechterspezifika zu betrachten und die Erkenntnisse für eine zielgerichtetere Versorgung zu nutzen muss von einem „nice-to-have“ zu einem „must-have“ werden.