Denise Jacoby

Wenn ein Biss in die Chilischote hilft

Für Menschen, die an einer Pornografie-Nutzungsstörung – kurz Pornosucht – leiden, gibt es ein neues Behandlungsangebot, das ihnen mit einer besonderen Therapie helfen soll. Das Projekt „PornLoS“ ist am 2. Februar 2024 in den Bundesländern Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland gestartet und nimmt aktuell noch Teilnehmende auf.

Wir haben mit Prof. Dr. Rudolf Stark von der Justus-Liebig-Universität in Gießen gesprochen, der das Innovationsfondsprojekt PornLoS („Pornografie-Nutzungsstörung effektiv behandeln – Leben ohne Suchtdruck“) initiiert hat. Das Projekt umfasst eine Therapie, die speziell auf die Bedarfe bei einer Pornosucht abgestimmt und in Zukunft durch eine App unterstützt werden soll.

Wie kamen Sie dazu, sich mit dem Thema der Pornografie-Nutzungsstörung (PNS) zu beschäftigen?

Tatsächlich bin ich vor ca. 20 Jahren zufällig über das Thema gestolpert. Anfang der 2000er Jahre haben wir in Gießen einen Kernspintomographen als neues Forschungsinstrument in Betrieb genommen. Wir haben uns damals für emotionale Prozesse im Gehirn interessiert.

Als wir die Wirkung von Bildern auf diese Prozesse untersucht haben, haben wir festgestellt, dass erotische Bilder zu einer starken positiven Reaktion im Belohnungssystem führen. Diese Region spielt eine große Rolle in der Sucht. Damit stand die Frage im Raum: Wenn erotisches Bildmaterial das Belohnungssystem offensichtlich so stark aktivieren kann, kann man dann süchtig nach Pornos werden?

Prof. Dr. Rudolf Stark von der Justus-Liebig-Universität Gießen (Foto: Rolf K. Wegst)

Was war der Auslöser für Ihre Idee, ein besonderes Versorgungsprojekt für Menschen mit einer Pornosucht zu initiieren?

Nach diesen ersten Tests haben wir uns im Rahmen der neurobiologischen Grundlagenforschung intensiv mit der Wirkung von Pornografie auseinandergesetzt. Parallel dazu begannen wir, in unserer psychotherapeutischen Ambulanz Menschen zu behandeln, die Probleme haben, ihren Pornografiekonsum unter Kontrolle zu behalten. Gerade in unserer therapeutischen Arbeit in Gießen haben wir immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Menschen mit einer Pornografie-Nutzungsstörung allein gelassen wurden. Das Thema ist stark schambesetzt und Psychotherapeutinnen und -therapeuten sind mit dem Störungsbild häufig nicht vertraut. Wir wollten deshalb die Versorgungssituation für Menschen, die an einer PNS leiden, verbessern. Das führte schließlich zur Entwicklung des Innovationsfondsprojekts PornLoS.

Was haben Sie während der Projektvorbereitung und -entwicklung erlebt?

Ich habe vor allem gemerkt, dass das Thema polarisiert: Die einen fanden es wohl eher schmuddelig, andere waren begeistert, dass hier ein Tabuthema angegangen werden soll. Da vor allem Männer von dieser Störung betroffen sind, spielte es auch eine Rolle, ob ich mit Männern oder Frauen über das Projekt sprach. Ich hatte oft den Eindruck, dass Männer eher verstehen konnten, dass man abhängig vom Pornokonsum werden kann. Aber unterstützt haben mich bei der Antragstellung für das Innovationsfondsprojekt vor allem Frauen.

Während der Entwicklung musste ich zunächst Vieles verstehen lernen: Was sind die gesetzlichen Rahmenbedingungen? Welche Vertragskonstellationen ergeben sich daraus? Wie sieht eine gesundheitsökonomische Evaluation aus? Welche datenschutzrechtlichen Bedingungen müssen wo berücksichtigt werden? Fragen über Fragen – aber ich habe jeden Tag etwas dazugelernt!

Pornosucht in Deutschland

Bundesweit sind schätzungsweise eine Million Menschen zwischen 18 bis 65 Jahren von einer PNS betroffen. Menschen, die sich fragen, ob ihr Konsum von pornografischem Material kritisch ist, können auf den Internetseiten des PornLoS-Projekts einen anonymen Selbsttest durchführen. Am Projekt können Versicherte aller gesetzlichen Krankenkassen teilnehmen und sich auf der Projektseite für eine Teilnahme anmelden.

Geleitet wird das auf dreieinhalb Jahre angelegte PornLoS-Forschungsprojekt von Prof. Dr. Rudolf Stark von der JLU Gießen. Es wird mit 5,4 Millionen Euro aus dem Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses gefördert und von der TK als Konsortialpartnerin unterstützt.

Gibt es bei einer Pornosucht ähnliche Entzugserscheinungen wie bei einer Drogensucht?

Das wird aktuell noch erforscht. Klar ist, dass viele Entzugserscheinungen bei Drogen auf ihre pharmakologische Wirkung zurückzuführen sind. Diese gibt es bei einer Verhaltenssucht natürlich nicht, da ja keine Substanz von außen zugeführt wird. Aber Betroffene berichten sehr wohl von starken körperlichen Unruhezuständen, wenn sie nicht wie gewünscht Pornos konsumieren können – weil beispielsweise das Tablet seinen Geist aufgegeben hat.

Welche therapeutischen Strategien oder Techniken helfen den Betroffenen bei der Entwöhnung?

In der Therapie muss auf zwei Ebenen gearbeitet werden. Auf der einen Seite muss gelernt werden, mit dem Suchtdruck umzugehen. Wir nennen es, die Impulskontrolle wiederherzustellen. Dazu lernen die Betroffenen, ihren Konsumdrang unter Kontrolle zu bekommen, indem sie ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenken. Das kann bedeuten, dass man sich mit der PornLoS-App oder etwa stark sensorisch ablenkt, indem man zum Beispiel eine Chilischote isst. Alternativ kann man auch nach draußen gehen, wo nicht konsumiert werden kann. Welche Notfallmaßnahme hilft, kann individuell sehr unterschiedlich sein.

Wichtig ist aber auch die zweite Ebene: Hier werden im Rahmen der Psychotherapie Fragen beantwortet wie „Wieso wurde der Pornografie-Konsum in meinem Leben so dominant?“, „Wieso ist für mich Porno-Sexualität attraktiver als Sex mit einem Partner oder einer Partnerin?“, „Was sind meine Ziele im Leben?“ und viele andere. Hier geht es also um zentrale Fragen, die stark mit der eigenen Biografie verbunden sind. Somit geht es auch um die Funktion der PNS im Leben und die anstehende Aufgabe, die Leerstellen, die durch den Wegfall der PNS entstehen, mit Alternativen zu füllen.

Weiterführende Links

Im Interview berichten die Betroffenen Thomas Baumeister und Markus Schneider von ihrer Pornosucht. Zudem erläutert der Psychotherapeut Dr. Scharyar Kananian im Gespräch mögliche Auslöser der Erkrankung.



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