Herr Prof. Adli, womit beschäftigen Sie sich in der Neurourbanistik?
Wir untersuchen den Einfluss des Stadtlebens auf die psychische Gesundheit und schauen uns an, was Stress verursacht. Alles deutet darauf hin, dass hier insbesondere chronischer sozialer Stress eine große Rolle spielt. Das ist zum einen Dichtestress, also Stress durch die Menge an Menschen auf engem Raum. Andererseits aber auch soziale Isolation und damit eben auch Einsamkeit. Einsamkeit entsteht vor allem unter anderen Menschen, die um einen herum sind, denen man sich aber nicht zugehörig fühlt.
Wie kommt es zu diesem Stress in der Stadt?
Wir sind immer noch dabei, das genau zu entschlüsseln. Es scheint aber, dass das Gehirn des Stadtmenschen empfindlicher auf sozialen Stress reagiert, also feinere „Stressantennen“ besitzt. Bestimmte stressverarbeitende Hirnareale sind bei Stadtmenschen aktiver, wenn man sie einem Stresstest unterzieht und die Gehirnaktivität dabei mit funktioneller Kernspintomographie untersucht. Das ist evolutionär nachvollziehbar, denn eine höhere Dichte und Betriebsamkeit erfordert von uns eine entsprechende Reaktionsfähigkeit. Gleichzeitig vermuten wir, dass diese empfindlicheren Stressantennen zur Eintrittspforte für psychische Erkrankungen werden können, wenn noch andere, etwa genetische oder soziale Risikofaktoren, hinzukommen. So haben Menschen, die in Städten leben, ein anderthalbfach höheres Risiko an einer Depression zu erkranken als Nicht-Städter. Das Risiko für Schizophrenie ist sogar doppelt so hoch.
Müssen wir jetzt alle aufs Land ziehen?
Das müssen wir auf keinen Fall. Dafür hat die Stadt zu viele Vorteile. Aber es gibt bestimmte Gruppen, die den höheren sozialen Stress in der Stadt nicht so leicht kompensieren können und damit ein erhöhtes Risiko für chronischen sozialen Stress und nachfolgende Erkrankungen haben. Und genau dafür brauchen wir gute Konzepte. Das ist eine stadtplanerische, aber auch sozial- und gesundheitspolitische wie auch zivilgesellschaftliche Aufgabe. Es braucht mehr Forschung, um zu verstehen wo, wann und für wen ein solches erhöhtes psychisches Erkrankungsrisiko in der Stadt entsteht. Und wie man dem entgegenwirken kann.
Wie kann stadtplanerisch gegengesteuert werden?
Grundsätzlich gilt: Öffentlicher Raum wirkt sozialem Stress, vor allem Isolationsstress, entgegen. Dafür brauchen wir ausreichend öffentliche und nicht kommerziell genutzte Begegnungsräume. Diese sind besonders gut, wenn sie Gestaltungspielraum bieten, wenn beispielsweise Straßenmobiliar nicht festgeschraubt ist, sondern man den Raum wirklich mitgestalten und sich damit aneignen kann. Außerdem sehen wir in unseren Studien, dass mit Zunahme von Grünflächen im weiteren Wohnumfeld stress- und emotionsregulierende Hirnareale aktiver sind – ein möglicher Hinweis auf die psychische Wirkung von städtischem Grün. Übrigens sind aus meiner Sicht auch Kultureinrichtungen soziale Räume, die Stress entgegenwirken. Weil sie dafür sorgen, dass Menschen vor ihre Haustür treten und soziale Zeit miteinander verbringen. Und Zeit vor der eigenen Haustür ist ein wirksames Antidot gegen Einsamkeit. Somit erfüllt jedes Theater auch einen Gesundheitsauftrag.
Einsamkeit wird von vielen Menschen gleichgesetzt mit einem sozialen Versagen maximalen Ausmaßes.
Spätestens seit der Corona-Pandemie sprechen wir über Einsamkeit, warum ist es immer noch ein Tabuthema?
Es gibt wirklich kaum ein Thema, was den Menschen so schwer über die Lippen geht, wie Einsamkeit – selbst beim Psychiater oder der Psychotherapeutin. Es ist extrem schambehaftet, denn es passt nicht in unser Konzept von sozialem Erfolg. Wir Menschen sind Herdentiere, wir sind soziale Wesen. Und Einsamkeit wird von vielen Menschen gleichgesetzt mit einem sozialen Versagen maximalen Ausmaßes. Zusätzlich gibt es noch die Tendenz, dass wir als soziale Wesen eher die Nähe von sozial erfolgreichen Menschen suchen und solche, die sozial ausgegrenzt sind, eher meiden – aus Angst, selbst unter denselben Bann zu fallen. Das verstärkt das Problem. Aber dieser Tendenz können wir als Menschen zum Glück auch bewusst gegensteuern. Und das müssen wir auch.
Was kann jeder und jede Einzelne gegen Einsamkeit tun?
Empfundene Einsamkeit ist ein biologisches Mangelsignal, ähnlich wie Hunger, Durst oder Schmerz. Evolutionär gesehen war ein gewisses Maß an sozialer Eingebundenheit für das Überleben stets wichtig. Tatsächlich sind bei Einsamkeit dieselben Hirnareale wie auch bei Schmerzen aktiv. Einsamkeit ist also eine Art „Seelenschmerz“, der uns anzeigt, dass es Handlungsbedarf gibt. Als Arzt und Psychiater rate ich zum Beispiel dazu, frühere Kontakte zu reaktivieren oder an alte Interessen anzuknüpfen, um mit Gleichgesinnten in Kontakt zu kommen oder auch mal die Namen auf dem eigenen Klingelschild im Mehrfamilienhaus durchzugehen und auf die Nachbarinnen und Nachbarn zuzugehen. Denn es gilt: Ansprechen lohnt sich. Menschen freuen sich mehr darüber angesprochen zu werden, als man immer so annimmt. Deswegen sage ich in Vorträgen auch oft: Schreiben Sie doch nachher einer Person, die es vielleicht nicht erwartet, eine nette SMS, eine Postkarte oder rufen Sie sie an.
Zur Person
Psychiater und Stressforscher Prof. Dr. med. Mazda Adli ist Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin und leitet an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité den Forschungsbereich „Affektive Erkrankungen“. In seiner klinischen und wissenschaftlichen Tätigkeit widmet er sich der Entstehung, Therapie und Prävention Affektiver Störungen.