Die soziale Pflegeversicherung in Deutschland wird in diesem Jahr dreißig Jahre alt. Eine Erfolgsgeschichte?
Die soziale Pflegeversicherung sorgt dafür, dass pflegebedürftige Menschen trotz ihres Pflegebedarfs ein möglichst eigenständiges und selbstbestimmtes Leben führen können. Damit trägt sie ganz entscheidend dazu bei, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sichern. In 30 Jahren hat die Pflegeversicherung allerdings schon viele Reformen mitgemacht. Diese haben leider nicht dafür gesorgt, dass das System heute stabil dasteht. Im Gegenteil: Sie haben es komplexer, komplizierter, bürokratischer und teurer gemacht.
Der demografische Wandel stellt die Pflegeversicherung vor weitere Herausforderungen: Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt immer weiter und mit ihnen auch die Kosten. Ende 2023 wurden bereits 5,2 Millionen Pflegebedürftige in der sozialen Pflegeversicherung betreut. Für ihre Versorgung wurden fast 60 Milliarden Euro ausgegeben.
Wie müssen Reformen aussehen, damit die Pflegeversicherung ihrer Rolle auch in Zukunft gerecht werden kann?
Die Antwort der politisch Verantwortlichen auf die Herausforderungen in der Pflege war bisher immer die gleiche: höhere Beiträge. Zuletzt wurde der Beitragssatz Anfang des Jahres um 0,2 Prozentpunkte erhöht. Das belastet die Versicherten und ist auch ein negatives Signal für den kriselnden Wirtschaftsstandort Deutschland. Eine echte Reform muss eine sozial- und generationengerechte Pflegeversicherung zum Ziel haben. Sie sollte einerseits die finanzielle und soziale Eigenverantwortung stärker berücksichtigen, andererseits im Bedarfsfall die Betroffenen passend und verlässlich unterstützen.

Was heißt das konkret?
Beim Thema Pflege geht es ständig darum, wie mehr Geld ins System kommen kann. Das ist natürlich wichtig, denn dahingehend hat die scheidende Regierung ihren Koalitionsvertrag nicht erfüllt. Meines Erachtens müssen wir als Gesellschaft und letzten Endes die politisch Verantwortlichen aber auch diskutieren, wie wir die vorhandenen Ressourcen möglichst gerecht und gut verteilen können. Also welche Pflegemodelle auch bei einer begrenzten Anzahl Pflegender und immer mehr Pflegebedürftigen noch funktionieren, und ab welchem Maß der Pflegebedürftigkeit das Einspringen der Solidargemeinschaft sinnvoll, bedarfsgerecht und finanzierbar ist.
Zweitens sollte die Frage gestellt werden, warum für über 28 Prozent der Ausgaben in der sozialen Pflegeversicherung kein Leistungsnachweis erforderlich ist. Die Rede ist hier vom Pflegegeld. Während bei den Pflegehilfsmitteln Einmalhandschuhe für 2,95 Euro belegt werden müssen, leistet es sich die dauerklamme Pflegeversicherung gleichzeitig 16,2 Milliarden Euro ohne rechnungsbegründende Nachweise auszuzahlen.
Drittens sollte man überlegen, wie laufende Alterseinkünfte und bestehendes Vermögen stärker bei der Finanzierung der Leistungen, insbesondere der stationären Pflege, berücksichtigt werden könnten, bevor die Solidargemeinschaft der Beitragszahlenden finanziell einspringt. Eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft aus dem Herbst 2024 zeigt, dass die Haushalte in Deutschland mit Personen ab 66 Jahren ein Durchschnittsvermögen von knapp 320.000 Euro besitzen. Demnach könnten sich über 70 Prozent der Haushalte im Rentenalter eine stationäre Pflege über mehrere Jahre leisten. Die Sozialversicherung könnte sich stärker als bisher auf diejenigen konzentrieren, die die Kosten für ihre Pflege nicht allein tragen können. Damit wird das Gründungsziel der Pflegeversicherung unterstützt: Ein Abrutschen in die Sozialhilfe so weit wie möglich zu verhindern.
Auch Bürokratieabbau kann helfen, die Lage in der Pflegeversicherung zu verbessern: Bei den vielen verschiedenen Arten von Pflegeleistungen ließe sich einiges vereinfachen, wenn man für diese flexible und bedarfsgerechte Budgets einführen würde. Im Pflegeunterstützungs- und Entlastungsgesetz (PUEG) wurde mit der Kurzzeit- und Ersatzpflege ein erster Schritt in diese Richtung unternommen.
Wenn Menschen pflegebedürftig werden, verändert sich für sie und ihre Angehörigen der Alltag komplett. Wie kann man sie in dieser herausfordernden Zeit unterstützen?
Die wenigsten, die in eine Pflegesituation geraten, haben sich vorher mit dem Thema beschäftigt. Eine ausführliche Pflegeberatung kann in diesen Momenten Halt und Orientierung bieten. Ergänzend dazu sind intuitive digitale Lösungen gefragt. Die Pflegebedürftigen oder ihre Angehörigen sollten organisatorische Fragen mit möglichst wenig Aufwand klären können. Dabei kann eine digitale Plattform helfen. Auch für die Suche nach einem Pflegeplatz sollte der Gesetzgeber ein zentrales bundesweites Portal schaffen. Das würde den Betroffenen die Suche erleichtern und auch die Heime entlasten, die sich nicht mehr um einzelne Anfragen per Telefon oder Mail kümmern müssten.
Im Beitrag „Die Zukunft der Pflegeversicherung: sozial gerecht, bedarfsgerecht, generationengerecht“ aus dem kommenden Buch „Unser Gesundheitssystem: Stabilitätsanker für die Demokratie“, herausgegeben vom TK-Vorstandsvorsitzenden Dr. Jens Baas, erläutert Frank Leive seine persönlichen Ideen für die Zukunft der Pflegeversicherung. Im Buchkapitel und hier im Interview gibt er seine persönliche Meinung wieder. Die offiziellen TK-Positionen zur Pflege gibt es hier.
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