Dr. Julia Wager ist Leiterin der Forschungsabteilung am Deutschen Kinderschmerzzentrum in Datteln und beschreibt im Interview wie Aufklärung sowie gezielte Unterstützung helfen können, den Kreislauf aus Sorge und Hilflosigkeit zu durchbrechen.
Dr. Julia Wager ist die Leiterin der Forschungsabteilung am Deutschen Kinderschmerzzentrum in Datteln
Frau Dr. Wager, was sind funktionelle Bauchschmerzen und wie viele Kinder und Jugendliche leiden darunter?
Etwa jedes zehnte Kind leidet unter funktionellen Bauchschmerzen, also wiederkehrenden Schmerzen, für die sich keine organische Ursache finden lässt. Dabei ist die Ursache keine körperliche Erkrankung, sondern eine gestörte Kommunikation zwischen Darm und Gehirn. Harmlose Signale aus dem Bauchbereich werden im Gehirn als Schmerz interpretiert. Es entstehen echte Schmerzempfindungen, obwohl organisch nichts „kaputt“ ist.
Welche Auswirkungen haben die Bauchschmerzen auf den Alltag der Betroffenen?
Funktionelle Bauchschmerzen führen oft dazu, dass betroffene Kinder sich zurückziehen. Sie bleiben zu Hause, gehen nicht mehr zur Schule und meiden soziale Kontakte. Dieser Rückzug ist meist eine intuitive Reaktion auf Schmerz, kann aber einen Teufelskreis aus Schonverhalten und verstärkter Wahrnehmung der Bauchschmerzen auslösen.
Das Innovationsfonds-Projekt „Wissen(s)Star“ hat sich intensiv mit funktionellen Bauchschmerzen bei Kindern und Jugendlichen beschäftigt. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse aus dem Projekt?
Das Projekt hat gezeigt, dass es vor allem an Wissen fehlt, sowohl bei den Betroffenen als auch bei ihren Eltern. Viele verstehen nicht, wie diese Schmerzen entstehen, was sie auslösen kann und warum sie trotz fehlender organischer Ursache real sind. Ziel des Projektes war es, wissenschaftlich fundierte Informationen leicht verständlich aufzubereiten – diese gibt es jetzt, zielgruppengerecht für Kinder, Jugendliche und Eltern aufbereitet, auf der Website meine-bauchstelle.
Verständnis und Wissen nimmt Ängste, beugt übermäßigen diagnostischen Maßnahmen vor und hilft, einen gesunden Umgang mit Symptomen zu entwickeln.
Dr. Julia Wager
Welchen Umgang raten Sie Eltern, Freund:innen und Lehrer:innen, wenn Betroffene über regelmäßige Schmerzen klagen, aber keine organische Ursache gefunden wird?
Ein häufiges Problem bei funktionellen Bauchschmerzen ist die anfängliche Unsicherheit. Familien erhalten oft die Rückmeldung, das Kind sei gesund, obwohl die Beschwerden weiterhin bestehen. Aus Sorge suchen sie weitere Ärztinnen und Ärzte auf, was zu einer Kette teils belastender Untersuchungen führen kann. Es ist zentral, frühzeitig erfahrene Kinder- und Jugendspezialist:innen aufzusuchen, welche das Thema einordnen und erklären. Wichtige erste Maßnahmen sind: aktiv bleiben, zur Schule gehen und sich vom Schmerz ablenken. Den Alltag also möglichst normal weiterführen. Bleiben die Symptome bestehen, kann auch vermehrter Stress eine Rolle spielen. Professionelle Hilfe bieten hier Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut:innen.
Was müsste sich aus Ihrer Sicht strukturell im Gesundheitswesen oder in der Versorgung ändern, damit Kinder mit funktionellen Bauchschmerzen schneller und gezielter Hilfe bekommen?
Ein fundiertes Verständnis funktioneller Bauchschmerzen ist entscheidend: Bei Eltern nimmt es Ängste, bei Ärzt:innen verhindert es Überdiagnostik und stärkt die Sicherheit im Umgang mit Diagnosen. Auch Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut:innen brauchen mehr Wissen über psychosomatische Erkrankungen, nur so können sie solche Fälle frühzeitig begleiten. Kinderarztpraxen können Betroffene über die Website meine-bauchstelle informieren, zum Beispiel über einen Link auf ihrer Praxishomepage.
Zur Person
PD Dr. Julia Wager ist die Leiterin der Forschungsabteilung am Deutschen Kinderschmerzzentrum in Datteln. Sie ist Psychologin und Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin. Sie koordiniert und das leitet das Projekt „meine Bau(ch)stelle“.