Tanja Gerlach ist Innovationskoordinatorin der Avatarpraxis.
Digitale Infrastruktur für bessere Versorgung
Von der Patientenaufnahme bis zur Abrechnung ist in der Avatarpraxis im niedersächsischen Scheeßel digitale Technik im Einsatz. „Die Motivation hinter der Gründung der ‚Avatarpraxis 1.0‘ war vor allem die Frage, wie wir medizinische Versorgung auf dem Land zukunftsfähig gestalten können“, so Tanja Gerlach. Die Kombination aus digitaler Kommunikation und persönlichem Kontakt ermöglicht es ihr, Versorgungslücken zu schließen und gleichzeitig den menschlichen Aspekt der Medizin zu bewahren. In einer Zeit, in der der Wunsch nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie wächst, ist die hybride Praxis eine Antwort auf die Herausforderungen des ländlichen Raums, unter anderem den Ärztemangel oder lange Anfahrtswege.
Die Avatarpraxis nutzt moderne Telemedizin, um eine schnelle Terminverfügbarkeit und bessere Erreichbarkeit zu bieten. „Unsere Patientinnen und Patienten profitieren durch schnellere Termine, bessere Sprechzeiten – auch am Wochenende bieten wir bessere Erreichbarkeit durch eine KI-Telefonanlage sowie verbesserte Kommunikation zwischen allen Akteuren“, erklärt Gerlach. „Unsere Ärztinnen und Ärzte können aus dem Home-Office arbeiten, deshalb bieten wir auch Videosprechstunden am Wochenende und spätabends an.“
Mit dem sogenannten „Avamobil“ können zukünftig unterversorgte Gebiete angefahren werden. „Eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter mit spezieller Schulung fährt zu den Patientinnen und Patienten und erledigt die Diagnostik vor Ort“, sagt Tanja Gerlach. „Der Arzt wird dann bei Bedarf in das Avamobil zugeschaltet.“ Der datenschutzkonforme Chat-Messenger ist eine weitere Erleichterung für die Kommunikation zwischen Praxis und den Patientinnen und Patienten. So können Laborbefunde hochgeladen und sofort eingesehen werden, parallel dazu erfolgt die Befundung per Chat. Diese digitale Infrastruktur schafft damit nicht nur einen besseren Zugang zu medizinischer Versorgung, sondern auch neue Berufszweige wie digitale Praxismanagerinnen und Physician Assistants.
Schaltet sich bei Bedarf in das Zuhause seiner Patient:innen: Allgemeinmediziner Jan Gerlach
Menschlicher Kontakt bleibt zentral
Ein zentrales Anliegen der Praxis ist es, den menschlichen Kontakt aufrechtzuerhalten. „Die digitalen Prozesse sind eine Ergänzung, die das medizinische Fachpersonal vor Ort unterstützt – nicht ersetzt“, betont Gerlach. Diese Haltung hat es der Praxis ermöglicht, die anfängliche Skepsis gegenüber digitalen Lösungen sowohl bei den Mitarbeitenden als auch bei den Patientinnen und Patienten zu überwinden. „Wir haben auf Transparenz und Schulungen gesetzt“, so Gerlach weiter. Durch persönliche Einführungen in digitale Angebote und klare Kommunikation konnten Ängste abgebaut werden.
Die Digitalisierung hat auch das Verhältnis zu den Patientinnen und Patienten verändert. „Die Beziehung hat sich durch den Einsatz digitaler Technologien spürbar weiterentwickelt und in vielerlei Hinsicht intensiviert“, sagt Gerlach. Insbesondere chronisch erkrankte Menschen profitieren von der Möglichkeit, ihre Gesundheitsdaten digital einzusehen und aktiv an ihrem Behandlungsverlauf teilzunehmen. Verwandte wohnen immer häufiger weit entfernt von den Eltern. Sofern gewünscht, kann eine Konferenzschaltung mithilfe eines telemedizinischen Koffers in ein Pflegeheim arrangiert werden. Die Kollegin oder der Kollege fährt ins Heim und der Arzt ist, zusammen mit den Angehörigen, über die Videosprechstunde verbunden. Durch die remote-Diagnostik sieht Allgemeinmediziner Jan Gerlach in Echtzeit sämtliche Werte wie beispielsweise Sauerstoffsättigung oder den Blutdruck. Zudem kann mit einem speziellen Stethoskop abgehorcht werden, bei der Jan Gerlach die Geräusche ebenfalls in Echtzeit hört. „Die Digitalisierung hat das Verhältnis zu unseren Patientinnen und Patienten nicht entmenschlicht, sondern erweitert. Außerdem können die oftmals gar nicht notwendigen Krankenhauseinweisungen vermieden werden“, führt die Innovationskoordinatorin aus.
Die Digitalisierung hat das Verhältnis zu unseren Patientinnen und Patienten nicht entmenschlicht, sondern erweitert.
Tanja Gerlach
Tanja Gerlach sieht die Zukunft der Allgemeinmedizin auf dem Land in digitalen Innovationen. „Hybridmodelle werden zum Standard“, ist sie überzeugt. Künstliche Intelligenz wird zunehmend Aufgaben übernehmen, die heute zeitaufwendig sind. „Das entlastet das medizinische Personal und schafft mehr Raum für das, was nicht digitalisiert werden kann: zuhören, abwägen, begleiten.“ In Scheeßel plant die Praxis, mobile Versorgungseinheiten einzuführen und ein regionales Gesundheitsnetzwerk zu schaffen, um die lückenlose Versorgung weiter zu verbessern.
Aller Anfang ist schwer?
Für andere Arztpraxen, die digitale Prozesse einführen möchten, hat Gerlach klare Empfehlungen: „Beginnen Sie mit einem klar umrissenen Teilprojekt. Ein Umstieg auf digitale Prozesse ist für viele Praxen zunächst eine große Herausforderung – aber auch eine große Chance.“ Wichtig ist, das gesamte Praxisteam einzubinden und Patientinnen und Patienten frühzeitig mitzunehmen. „Der wichtigste Schritt ist oft der erste: anfangen. Und zwar nicht perfekt, sondern pragmatisch“.