Antonia Opelt

krisenchat: „Viele junge Männer suchen sich bei psychischen Problemen keine Hilfe“

Egal ob familiäre Konflikte, Liebeskummer oder depressive Symptomatiken: Bei Problemen können sich alle unter 25-Jährigen an die Plattform krisenchat wenden. Elias Jessen, Psychologe und Marketingmanager bei krisenchat, erklärt, warum Hilfsangebote für Jungen und junge Männer einen besonderen Stellenwert haben und wie man diese Zielgruppe am besten erreichen kann.

Elias, welche Hilfsangebote stellt krisenchat zur Verfügung?

Im Kern bieten wir unser Beratungsangebot per Chat an – wir sind so niedrigschwellig wie möglich, 24/7 für Kinder und Jugendliche erreichbar. Mit nur einem Klick kann man uns per WhatsApp oder SMS schreiben und erhält eine kostenlose, professionelle Beratung, die im Durchschnitt 45 Minuten geht. Außerdem bauen wir gerade unseren Content-Bereich aus, wo wir Gesundheitsthemen und gesundheitsfördernde Maßnahmen auf Social-Media-Plattformen aufbereiten. So wollen wir der Verbreitung von Desinformation zu gesundheitlichen Themen entgegenwirken, auf unser Beratungsangebot aufmerksam machen und der jungen Zielgruppe schon dann wichtige Informationen an die Hand , bevor sie eine Beratung überhaupt benötigen.

Was sind die häufigsten Themen, mit denen sich Kinder und junge Erwachsene an krisenchat wenden?

 Junge Menschen richten sich mit sehr unterschiedlichen Themen an uns. Das reicht von Personen, die einfach jemanden zum Reden brauchen, über gesundheitliche Fragen bis hin zu sehr akuten Fällen. Die Themen, mit denen wir in der Chatberatung am häufigsten konfrontiert werden, sind unter anderem selbstverletzendes Verhalten, Suizidalität und depressive Symptomatiken, aber auch familiäre Konflikte und Liebeskummer. Auf Social Media haben vor allem „Relateable Topics“, also Themen, mit denen sich junge Menschen gut identifizieren können, eine hohe Relevanz. Hierzu zählt zum Beispiel Stress in der Schule. Aber auch Themen wie Mobbing, Einsamkeit und soziale Ängste werden viel geklickt.

Die Kooperation von krisenchat und der TK fokussiert sich vor allem auf Hilfsangebote für die Gesundheit von Jungen. Wieso besteht hier so ein akuter Handlungsbedarf?

Es ist allgemein eine große Herausforderung, eine männliche Zielgruppe für gesundheitliche Themen zu begeistern. Das liegt zum einen daran, dass männliche Personen ein anderes Gesundheitsverhalten haben als weibliche – so gehen sie beispielsweise deutlich seltener zu Vorsorgeuntersuchungen und suchen seltener medizinische Hilfe auf. Bei psychischen Themen kommt zusätzlich eine starke Stigmatisierung von mentalen Problemen bei männlichen Personen hinzu. Da werden Stereotype aktiviert wie „Man(n) ist schwach, wenn man sich Hilfe holt“ oder „Männer können gar nicht depressiv sein“. Auch bei uns in der Versorgung merken wir ein starkes Ungleichgewicht: Obwohl man davon ausgeht, dass die Geschlechter gleichermaßen von psychischen Problemen betroffen sind, liegt der Anteil der männlichen Hilfesuchenden bei uns in der Beratung bei nur 20 Prozent. Es gibt also viele junge Männer mit psychischen Problemen, die sich noch keine Hilfe suchen und um die man sich kümmern muss. Wir sehen uns in der Verantwortung, bei diesem Thema der geschlechterspezifischen Ansprache mitzudenken und das jetzt – mit Unterstützung der TK – anzugehen.

Elias Jessen beschäftigt sich bei krisenchat damit, die männliche Zielgruppe für mentale Gesundheitsthemen zu begeistern.

krisenchat zeichnet sich dadurch aus, dass Betroffene dort abgeholt werden, wo sie sind – nämlich online. Auf welchen Kanälen erreicht ihr Jungs und junge Männer am besten?

Wir arbeiten viel mit Creatorinnen und Creatorn zusammen, die mit ihrem Content ohnehin schon ein männliches Publikum erreichen. Unsere Kooperationspartner stammen dabei häufig aus den Bereichen Gaming, Rap oder Sport – das sind sehr klischeehafte Themen, die männliche Zielgruppe wird von diesen jedoch stark angesprochen. Durch diese Kooperationen wollen wir eine Art Vorbildfunktion schaffen und ein Teil der Community werden. Dafür überlegen wir uns gemeinsame Aktionen und streamen zum Beispiel zusammen auf der Plattform Twitch.

Ein großes Thema bei Jugendlichen ist Cybermobbing. Hast du Tipps, wie man sich gegen Hass im Netz schützen kann?

 Hass im Netz ist ein sehr breites Feld: Das fängt in der WhatsApp-Gruppe an und hört im Gaming auf. Das Wichtigste ist, Transparenz zu schaffen, also Vorfälle aufzuzeigen, zu melden und wenn möglich die Strukturen zu nutzen, die innerhalb eines Spiels oder einer Social-Media-Plattform zur Verfügung stehen. Darüber hinaus sollte man wissen, dass Cybermobbing strafbar ist – auch wenn sich die rechtliche Nachverfolgung im digitalen Raum noch schwierig gestalten kann. Deshalb ist es umso wichtiger, Vorfälle zur Anzeige zu bringen und wenn möglich Beweismaterial, etwa in Form von Screenshots, zu sammeln. Außerdem sollte man sich mit der Situation nicht alleine auseinandersetzen, sondern mit Vertrauenspersonen darüber sprechen – wenn man niemanden zum Reden hat, dann natürlich auch mit krisenchat als Anlaufstelle.

krisenchat wurde im Mai 2020 gegründet, seitdem wurden mehr als 100.000 Beratungen durchgeführt. Welches Fazit zieht ihr aus den letzten drei Jahren und welche Pläne habt ihr für die Zukunft?

In Bezug auf unsere Arbeit fällt das Fazit sehr positiv aus. Wir konnten in den letzten drei Jahren sehr stark wachsen und sind mittlerweile das meistgenutzte digitale psychosoziale Beratungsangebot für junge Menschen in Deutschland. Außerdem haben wir gemerkt, dass es in diesem Bereich noch eine sehr hohe Dunkelziffer gibt: Über 50 Prozent der Kinder und Jugendlichen, die sich bei uns melden, haben vorher noch nie mit jemandem über diese Probleme gesprochen. Unser Hauptziel ist es natürlich, allen Kindern und Jugendlichen Beratungsangebote machen zu können. Außerdem wollen wir uns auf den Social-Media-Plattformen weiterhin als professionelle Anlaufstelle für psychologische Themen etablieren. Um diese Ziele zu erreichen, wollen wir uns weiter stark vergrößern: Aktuell haben wir eine Struktur von ungefähr 3.000 Beratungen im Monat.  Allein der akute Bedarf von Kindern und Jugendlichen liegt bei ungefähr dem zehnfachen.



Lesen Sie hier weiter

trauriges Mädchen sitzt auf dem Bett, im Vordergrund ein Handy Johanna Küther Johanna Küther
Nicole Ramcke Nicole Ramcke
Mädchen mit Handy im Vordergrund. Gruppe von drei Schüler:innen im Hintergrund lästert. Sandra Mühlbach Sandra Mühlbach

Kommentieren Sie diesen Artikel

Lädt. Bitte warten...

Der Kommentar konnte nicht gespeichert werden. Bitte überprüfen Sie Ihre Eingaben.