Die Herausforderungen im deutschen Gesundheitssystem sind groß: Während der medizinisch-technische Fortschritt und die Digitalisierung neue Möglichkeiten für Prävention und Behandlung eröffnen, kämpft das System mit stark steigenden Kosten. Doch trotz hoher Ausgaben für Gesundheit liegt Deutschland bei Lebenserwartung und Anzahl gesunder Lebensjahre hinter anderen OECD-Ländern zurück. Immer längere Wartezeiten auf Arzttermine senken die Zufriedenheit der Versicherten. Was notwendig ist? Strukturelle Veränderungen, um Effizienz und Qualität der Gesundheitsversorgung zu steigern.
Dafür brauchen wir innovative Lösungen für die Versorgung selbst und für ihre Organisation. Und damit diese Innovationen entstehen können, braucht es entsprechende Rahmenbedingungen, insbesondere einen hinreichenden Spielraum für Wettbewerb innerhalb des GKV-Systems.
Mehr Wettbewerb zwischen Krankenkassen
Seit der Einführung der freien Kassenwahl für Versicherte im Jahr 1996 hat der Wettbewerb zwischen den Krankenkassen zu zahlreichen Verbesserungen für die Versicherten geführt, etwa bei der Servicequalität. Gleichzeitig ist der Wettbewerb im Vergleich zum Wettbewerb privater Unternehmen stark eingeschränkt – eine Konsequenz des Solidarprinzips, also der Idee, dass Gesundheit beziehungsweise Krankheit ein Lebensrisiko darstellt, das nicht von Einzelnen zu tragen ist, sondern von der Solidargemeinschaft der Versicherten. Gesetzliche Krankenkassen müssen deshalb alle Versicherten gleich behandeln und dürfen keine Risikoselektion vornehmen. Das hat sich bewährt und soll so bleiben. Eine Ausweitung der Handlungsmöglichkeiten und eine daraus folgende stärkere Differenzierung der Kassen – ohne das Solidarprinzip in Frage zu stellen oder zu gefährden – würde aber die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems für die Versicherten stärken.
Größere Handlungsspielräume sollte es zum Beispiel im Bereich der freiwilligen Zusatzleistungen der Kassen (Satzungsleistungen) und bei individuellen Vereinbarungen zwischen Kassen und Leistungserbringern (Selektivverträge) geben – oft sind gesetzliche Vorschriften hier so streng, dass sie sich für Kassen nicht lohnen oder für Versicherte nicht attraktiv genug sind. In der Vergangenheit haben Satzungsleistungen und Selektivverträge den Wettbewerb angekurbelt und so Leistungen in den Markt gebracht, die über den Standard hinausgehen (zum Beispiel telemedizinische Angebote). Diesen Wettbewerbseffekt könnte man stärken und auch für Neuerungen im Bereich der Digitalisierung nutzen. Essenziell dafür sind Möglichkeiten der verantwortungsvollen Nutzung von Gesundheitsdaten zum Wohle des einzelnen Versicherten und der Versichertengemeinschaft.
Wettbewerb mit der privaten Krankenversicherung
Fairen Wettbewerb sollte es auch zwischen der gesetzlichen und der privaten Krankenversicherung (PKV) geben. Die heutigen Rahmenbedingungen erlauben aber keinen fairen Wettbewerb: Die GKV wird strukturell benachteiligt, indem sie versicherungsfremde Leistungen finanziert, die Kosten dafür aber nicht ausreichend vom Staat erstattet bekommt. Das betrifft etwa die GKV-Beiträge für Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger. Hier zahlt der Staat 9,2 Milliarden Euro jährlich zu wenig an die GKV. Diese gesamtgesellschaftlichen Aufgaben sollten vollständig vom Staat mit Steuermitteln finanziert werden und nicht von den Beitragszahlenden.
Das Ziel im Verhältnis zwischen GKV und PKV sollte ein einheitliches Versicherungssystem mit einheitlichen Wettbewerbsparametern sein, das die Vorteile von GKV und PKV vereint. Dabei geht es nicht um eine Einheitsversicherung, vielmehr sollte ein nach einheitlichen Finanzierungs- und Vergütungsregeln wettbewerblich organisiertes Versicherungssystem das Ziel sein.
Wettbewerb mit „neuen“ Akteuren im Gesundheitswesen
Auch mit „neuen“ Akteuren wie BigTech-Unternehmen oder globalen E-Health-Firmen stehen Krankenversicherungen im Wettbewerb. Hier geht es um die Rolle als Begleiter und Navigator bei Gesundheitsthemen. Durch Wearables und Apps haben diese Unternehmen die Möglichkeit, Gesundheitsdaten in Echtzeit zu erhalten und individuelle Empfehlungen für die Nutzerinnen und Nutzer zu geben.
Politische Rahmenbedingungen müssen so gestaltet werden, dass Krankenkassen hier an einem fairen Wettbewerb teilnehmen können. Eine zu starke Regulierung bringt die Gefahr mit sich, dass Menschen mit ihren sensiblen Gesundheitsdaten auf Anbieter im weniger eng regulierten System ausweichen. Hier besteht das Risiko, dass ein neues wenig solidarisches System entsteht, in dem nur diejenigen die besten Leistungen erhalten, die dafür mit Geld oder Daten bezahlen.
Die Kraft des Wettbewerbs nutzen
Das deutsche Gesundheitssystem mit der auf dem Solidarprinzip gründenden gesetzlichen Krankenversicherung hat sich über viele Jahrzehnte bewährt. Es hat sehr gute Gesundheitsversorgung ermöglicht und wurde von der Bevölkerung ob seiner Leistungsfähigkeit und sozialen Gerechtigkeit geschätzt. Um das auch in Zukunft weiter sicherzustellen, muss das System jetzt die Chancen der Digitalisierung und des medizinischen Fortschritts genauso bewältigen wie die Herausforderungen des demografischen Wandels.
Wettbewerb in geeignetem Rahmen hat sich in der sozialen Marktwirtschaft als am besten geeignete Organisation der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Akteuren erwiesen. Das auf dem Solidarprinzip organisierte Gesundheitswesen wird auch zukünftig einen höheren Regelungsbedarf aufweisen als andere Wirtschaftsbereiche. Die Kraft des Wettbewerbs sollte allerdings nicht unterschätzt werden.
Mehr zum Thema
Dieser Gastbeitrag basiert auf dem Kapitel „Mehr Wettbewerb wagen: Entwicklungen im Gesundheitsmarkt und die Rolle der GKV“ von Dr. Thorsten Brackert und Philip Giewer aus dem kommenden Buch „Unser Gesundheitssystem: Stabilitätsanker für die Demokratie“, herausgegeben vom TK-Vorstandsvorsitzenden Dr. Jens Baas. Das gesamte Kapitel und die TK-Position zu Wettbewerb gibt es hier zu lesen.