Katharina Borgerding

Dr. (mal) Anders: der Krankenkassenchef

Von Heidelberger und Münsteraner Unikliniken über die Finanzwelt Londons und schwäbische Automobil-Konzerne in die Unternehmenszentrale der Techniker in Hamburg: Arzt plus Unternehmensberater ist gleich TK-Chef? Warum diese Rechnung aufgeht, erklärt der 49-Jährige Dr. Jens Baas im Interview.

Warum haben Sie Medizin studiert?

Der Beruf ist einfach eine tolle Kombination: Man steht in direktem Kontakt zu Menschen und gleichzeitig ist die Arbeit geistig und handwerklich anspruchsvoll. Bereits im ersten Semester des Medizinstudiums war ich mir sicher, die richtige Wahl getroffen zu haben. Ich wusste auch schon früh, dass ich Chirurg werden wollte – gerade wegen des handwerklichen Aspekts. Die einzige Frage war, welches operative Fach ich wählen würde.

Können Sie sich noch an Ihre erste selbst durchgeführte Operation als Chirurg erinnern?

Ja, das war natürlich eine typische Anfänger-OP. Ich habe einem Patienten eine kleine Metallplatte vom Schienbein entfernt. Diese habe ich ihm nach der Operation übrigens auch abgekauft – bezahlt mit einem Kasten Bier. Die Platte liegt noch immer bei mir zuhause in der Vitrine.

Und was war Ihre schwierigste Operation?

Bei der ging es nicht um eine technische Herausforderung, sondern vielmehr um eine schwierige Entscheidung: Als junger Arzt in der Notaufnahme bekam ich eine Patientin eingeliefert, die nach einem Unfall innerlich zu verbluten drohte und bei der ich den Verdacht auf einen Milzriss hatte. Da in dem Moment alle dienstälteren Ärzte bereits in Operationen und somit auch alle OPs besetzt waren, musste ich mich entscheiden: Entweder ich handele jetzt und entferne die Milz direkt in der Notaufnahme oder die Patientin hat eine hohe Wahrscheinlichkeit zu versterben. Nur: So eine Operation, auch noch unter provisorischen Rahmenbedingungen, war eindeutig ein Eingriff für einen Facharzt und nicht für einen jungen Assistenten. Stabilisieren und konservativ behandeln war eigentlich alles, was man von mir in dem Ausbildungsstand erwartet hätte. Würde bei einem Eingriff also etwas schieflaufen, hätte ich durchaus rechtliche Konsequenzen fürchten müssen, ich sah meine hoffnungsvolle Karriere schon vor einem abrupten Ende. Ich habe mich aber dennoch für die Operation entschieden, im Laufe des Eingriffs kam dann auch noch ein erfahrener Oberarzt dazu, alles ging gut und die Patientin hat sich von dem Unfall ohne Spätfolgen erholt.

Gab es im Klinikalltag öfter Situationen, in denen Sie an Ihre Grenzen gestoßen sind?

Das gehört zum Lernen dazu! Die Chirurgie ist in weiten Teilen ein Handwerk. Und dieses Handwerk muss man erlernen und einüben, wie jedes andere Handwerk auch. Theorie lernt man im Studium, aber das Praktische erst im Krankenhaus und im OP. Als Assistenzarzt in einer chirurgischen Universitätsklinik wurde man in der Ausbildung ständig an seine Grenzen gebracht, aber genau das hat eben auch den Reiz ausgemacht.

Und sind Sie auch an emotionale Grenzen gestoßen?

Generell kann ich gut Abstand halten, schon um professionell handeln zu können. Aber eine Situation, die mich emotional durchaus beschäftigt hat, war als ich das erste Mal lebenserhaltende Geräte abschalten musste. Das war bei einer 20-jährigen Frau, die von einem Pferd getreten worden war. Sie war an ein Beatmungsgerät angeschlossen, jedoch hirntot. Die Eltern fragten, ob wir die Geräte nicht noch etwas länger laufen lassen könnten. Sie hätten oft gehört, dass Menschen auch später wieder aus dem Koma erwachen würden. Der Familie in dieser Situation zu erklären, dass ein Hirntod kein Koma und endgültig ist, war extrem schwierig. Beatmet sah die Patientin subjektiv sehr lebendig aus, was das Abstellen der Maschine und damit das Einleiten des sichtbaren Sterbens natürlich schwer machte, erst recht in Anwesenheit der weinenden Eltern. Das war eine nicht einfache Situation.Dr. Jens Baas im PJ

Wann kam Ihnen das erste Mal der Gedanke, nicht als Arzt weiterarbeiten zu wollen?

Nie, diesen Gedanken hatte ich gar nicht. Mein Ziel war es, eine große chirurgische Uniklinik zu leiten. Daher habe ich überlegt, was mir persönlich noch fehlt, um ein guter Chefarzt zu werden. Im Medizinstudium und der Facharztausbildung lernt man keine Betriebswirtschaftslehre. Kenntnisse in dem Bereich fand ich aber essentiell. Deswegen habe ich mich entschieden, für ein bis zwei Jahre in eine Unternehmensberatung zu wechseln, um betriebswirtschaftliche Grundlagen zu lernen. Und danach wollte ich eigentlich zurück in die Klinik.

Das ist aber nie passiert. Warum nicht?

Mein ausgeklügelter Plan ist daran gescheitert, dass mir die Arbeit in der Unternehmensberatung so viel Spaß gemacht hat. Ich hatte ständig neue, spannende Projekte. Nach vier Jahren habe ich mir dann eingestanden, dass ich wohl nicht mehr in die Klinik zurückkehren würde.

Wie verlief Ihr Einstieg in die Unternehmensberatung?

An meinem ersten „echten“ Arbeitstag nach der Einarbeitungsphase sollte ich mit meinem Projektleiter für anfängliche Fusionsgespräche zweier Banken nach London fliegen. Als ich vor der Bank stand, rief er mich an: Sein Flugzeug hätte Verspätung, ich sollte den Termin alleine wahrnehmen. Ich hatte keine Ahnung von Fusionen und war überzeugt, dass mein erster Tag auch gleichzeitig mein letzter sein würde.

Haben die Kunden bemerkt, dass Sie ein Anfänger waren?

Mein Projektleiter riet mir am Telefon noch: „Und sag‘ nicht gleich, dass du Arzt bist und heute dein erster Tag ist.“ Der Termin begann aber mit einer Vorstellungsrunde. Ich habe erzählt, dass ich bisher hauptsächlich im medizinischen Bereich gearbeitet hatte und es mein zweites Jahr in der Beratung war. Das stimmte auch beides, „medizinischer Bereich“ ist eine Uniklinik ja nun definitiv und es war Januar, meine Einstieg und die Einarbeitung in die Beratung sind aber schon im Dezember gewesen, also im Vorjahr. Alles lief gut, es stellte sich heraus, dass selbst einer der Bankdirektoren fachfremd war, er war Architekt. Mit ihm habe ich übrigens heute noch Kontakt. Aber in dem Moment war ich schon nervös.

Nach mehr als zehn Jahren Unternehmensberatung sind Sie in den Vorstand der Techniker gewechselt. Wie kam es dazu?

Auch das war nicht geplant. Ich war in meinem Job erfolgreich und glücklich, aber dann kam die TK auf mich zu und fragte, ob ich Interesse daran hätte, Vorstandsvorsitzender zu werden.

Was hat Sie an diesem Job gereizt?

In der Unternehmensberatung kann man nur beraten, nicht entscheiden. Ziemlich unchirurgisch. Hinzu kam, dass mir die Lösung von Problemen aus dem Gesundheitswesen immer viel Spaß gemacht hat. Als das Angebot der TK kam, stand ich vor der Wahl: jetzt wechseln oder womöglich für immer in der Beratung bleiben. Da ich mir keinen besseren Job im Gesundheitswesen vorstellen konnte – und noch immer nicht kann – entschied ich mich für die TK. Es gab auch Angebote von anderen Krankenkassen und Verbänden, für mich kam aber nur die TK in Frage.

Was war bei dem Jobwechsel die größte Umstellung für Sie?

In einem Unternehmen haben viele Mitarbeiter Hemmungen, ihre Meinung offen zu vertreten und trauen sich nicht, offen mit dem Vorstand zu diskutieren. Das gibt es in der Unternehmensberatung nicht. Es ist mein Ziel, dass wir innerhalb der TK viel offener miteinander reden. In einer Diskussion muss jeder seine Meinung offen vertreten, unabhängig von Hierarchien, die Aufgabe des Vorstandes ist es dann, daraus die nötigen Entscheidungen zu treffen.

Profitieren Sie als Kassenchef von Ihrer medizinischen Ausbildung?

Es ist sicher hilfreich, dass ich auch die anderen Seiten des Gesundheitswesens, einschließlich der pharmazeutischen und medizintechnischen Industrie, kenne. Doch viel wichtiger sind die generellen Fähigkeiten, die ich in der medizinischen Ausbildung erworben habe: In der Chirurgie muss man schnell entscheiden können und darf nicht ängstlich sein. Außerdem lernt man, mit Menschen umzugehen und wie notwendig es ist, sich auf seine Kollegen verlassen zu können – egal ob es die Krankenschwester oder der Chefarzt ist. Nicht anders ist es bei der Techniker: Ich vertraue jedem meiner fast 14.000 Mitarbeiter. Alleine kann man weder ein guter Arzt noch ein guter Vorstandsvorsitzender sein.



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