Denise Jacoby

„Der virtuelle Kontakt ist intensiv“

Wie kommt ein telemedizinisches Angebot an, in dem Patienten von Physiotherapeutinnen und -therapeuten engmaschig begleitet werden? Wir haben die Ärztin und Herodikos-Gründerin Eva Schobert gefragt.

Das Start-up „Herodikos“ hat ein telemedizinisches Programm für Volkskrankheiten wie Rücken- oder Knieschmerzen entwickelt. In dem „Blended Care“-Modell können sich Patientinnen und Patienten in einem ersten virtuellen oder persönlichen Arztkontakt ein individuelles schmerztherapeutisches Training per App verordnen lassen.

Eva Schobert ist Ärztin und Gründerin. Ihr Start-up bietet eine App zur individuellen medizinischen Bewegungstherapie an.

Die Herodikos-App wird schon seit 2019 erfolgreich bei Schmerzpatientinnen und -patienten eingesetzt. Wie kamen Sie auf die Idee, die App durch telemedizinische Physiotherapie zu ergänzen?

Als wir vor einigen Jahren für Mitarbeitende eines Unternehmens in Wolfsburg mit Rücken- und Knieschmerzen ein Projekt im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements starten wollten, stellten wir fest, dass wir vor Ort keine Therapeutinnen und Therapeuten gewinnen konnten, die Physiotherapie in Präsenz anbieten. Damals fiel kurzerhand der Entschluss, die Betreuung für die Mitarbeitenden selbst zu organisieren und per Telemedizin anzubieten – und das Projekt wurde ein voller Erfolg. Das war bereits vor der Corona-Pandemie. In der Corona-Zeit habe ich dann meine therapeutischen Yogastunden auf ein Online-Format umgestellt. Auch das wurde super angenommen. Aus diesen positiven Erfahrungen ist dann unser Folgeprojekt HerodikosPlus entstanden.

Was kann die App leisten und wie interessiert sind die Patientinnen und Patienten?

Die Herodikos-App umfasst ein physiotherapeutisches Programm mit mehr als 200 Mobilisierungs- und Kraftübungen, Entspannungstrainings, kurzen Yoga-Sequenzen, einem Bewegungstagebuch und diversen Wissens-Modulen zu den Krankheitsbildern. Aus diesem Baukasten können die Physiotherapeutinnen und -therapeuten ein individuelles Programm für die Patientinnen und Patienten zusammenstellen.

Viele Betroffene sind offen und neugierig auf diese neue Versorgungsform. Sie können mit Hilfe der App direkt mit der Bewegungstherapie starten und sich über einen Zeitraum von bis zu drei Monaten physiotherapeutisch begleiten lassen. Dabei sind sie örtlich und zeitlich komplett flexibel. Gerade Patienten, die beruflich oder familiär stark eingebunden oder nicht mobil sind oder in einer strukturschwachen Region wohnen, finden das Programm gut. Das Plus an persönlicher Betreuung – wenn auch telemedizinisch – kommt gut an. Aber das Programm kann nicht jeder und jedem gerecht werden. Gute Deutsch- und rudimentäre Computerkenntnisse sind zum Beispiel eine Voraussetzung, damit der Ablauf klappt.

Bevorzugen die Patientinnen und Patienten für das erste Anamnese-Gespräch einen Präsenztermin in einer Arztpraxis oder die Video-Sprechstunde?

Das ist im Moment relativ ausgeglichen. Das Programm ist sehr neu und es gibt deutschlandweit bislang erst rund 30 Arztpraxen, die die HerodikosPlus-App verordnen, daher ist die Möglichkeit der Video-Sprechstunde sehr wichtig. Zum Glück kommen aktuell jede Woche mehr Ärztinnen und Ärzte dazu.

Die Telemedizin bietet ein großes Potenzial zur Verbesserung der Versorgungsqualität und -quantität, wird aber nie den persönlichen ärztlichen oder therapeutischen Kontakt ganz ersetzen können.

Erhöht der regelmäßige Austausch mit der Physiotherapeutin gegenüber digitalen Angeboten ohne persönliche Begleitung die Motivation, das Training durchzuführen?

Das ist definitiv so. In den Gesprächen mit den Physiotherapeutinnen und -therapeuten werden spezifische Ziele definiert, auf die dann fokussiert hingearbeitet wird. Wir wissen aus der Forschung, dass persönliche Betreuung und individuelle Therapien die zwei größten Motivationsfaktoren sind und haben das ganz bewusst in unser Angebot integriert.

Was entgegnen Sie Kritikern, die vielleicht sagen, dass eine Schmerztherapie ohne direkten Kontakt zum Patienten oder zur Patientin gar nicht möglich ist?

Gerade dafür ist dieses „Blended Care“-Modell ideal. Der persönliche Kontakt ist hier zwar telemedizinisch, aber sehr intensiv. Im Erstgespräch erarbeiten die Patientinnen und Patienten mit der Physiotherapeutin bzw. dem Physiotherapeuten eine Agenda und setzen sich smarte Ziele. Dabei wird auch über Barrieren im Alltag gesprochen wie beispielsweise Zeitmangel oder Schmerzen, und wie diese überwunden werden können, um die Ziele zu erreichen. Sind Barrieren zu hoch oder wollen die Betroffenen mehr machen als geplant, werden die Ziele im Laufe der Therapie angepasst. Die Patientinnen und Patienten haben insgesamt bis zu sechs Termine mit den Therapeutinnen und -therapeuten und können mit ihnen jederzeit über die App Kontakt aufnehmen.

Welche Teile einer schmerztherapeutischen Behandlung lassen sich digitalisieren und welche nicht?

Nach der Kreuzschmerz-Leitlinie besteht eine Schmerztherapie aus mehreren Bausteinen: der medikamentösen und nicht-medikamentösen Therapie an sich, der Beratung und Information sowie der Motivation zur gesunden Lebensführung. Besonders die letzteren zwei Bausteine und die Bewegungstherapie lässt sich gut digital unterstützen, die Inhalte sollten aber individuell auf die Patientin oder den Patienten abgestimmt sein. Invasive Therapien wie etwa Schmerzspritzen kann man natürlich nicht digitalisieren.

Welches Potenzial sehen Sie insgesamt in der Telemedizin?

Die Telemedizin bietet ein großes Potenzial zur Verbesserung der Versorgungsqualität und -quantität, wird aber nie den persönlichen ärztlichen oder therapeutischen Kontakt ganz ersetzen können. Hier können wir viel von unseren Nachbarn in der Schweiz lernen, wo Telemedizin schon viel positiver aufgenommen wird als bei uns. Dort bieten einige Krankenkassen bereits Tarife für Versicherte, die zum Erstgespräch zunächst zum Onlinedoktor gehen, sofern keine klinische Untersuchung erforderlich ist. Für viele Personen kann das die Barriere senken, bei gesundheitlichen Beschwerden überhaupt einen Arzt oder eine Ärztin zu kontaktieren.

Besonderer Versorgungsvertrag

Patientinnen und Patienten können die individuelle Knie- und Rückenschmerztherapie mit der Herodikos-App im Rahmen eines Besonderen Versorgungsvertrags der TK nutzen. Schlagen der Arzt oder die Ärztin in einem ausführlichen Erstgespräch zur Krankheitsgeschichte die Physiotherapie per App als geeigneten Behandlungsweg vor, unterzeichnen die Patientinnen und Patienten eine „Teilnahmeerklärung zur Besonderen Versorgung“. Im nächsten Schritt kann die Untersuchung per Video-Gespräch mit einer Physiotherapeutin oder einem Physiotherapeuten und die Bewegungstherapie beginnen.



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