Fast zehn Jahre ist es her, als das Telefon nicht mehr stillstand. Das ist eigentlich nichts Ungewöhnliches im Pressebüro einer Krankenkasse. Doch dieses Mal war es anders. In der Leitung waren Anke H. aus Stuttgart, Katrin G. aus Köln, Andrea H. aus München und viele andere. Diese Frauen waren keine Journalistinnen, sie waren Mütter. Mütter, die mir von der Depression nach der Geburt ihres Kindes erzählten. Ich hatte selbst noch keine Kinder und all das klang wie ein Widerspruch. Ein Baby zu bekommen, sollte doch das Schönste sein was es gibt, zumindest sagte das meine eigene Mutter immer. Doch die Frauen am Telefon sprachen nicht vom Mutterglück. Ganz im Gegenteil.
Peripartale Depression – ein Nischenphänomen?
Es ist das Jahr 2013. Ich kontaktiere Sabine Surholt, die Vorsitzende von Schatten & Licht. Der Verein kümmert sich um Mütter mit peripartalen oder postpartalen Depressionen, Angststörungen oder Psychosen – also seelischen Krisen rund um die Geburt. Ich befrage sie zu diesem Thema und möchte eine Pressemitteilung schreiben. Die TK fördert den Verein seit einigen Jahren über die Selbsthilfe. Ein interessantes Thema, denke ich. Die Krankheit ist wohl eher selten, denke ich auch noch. Und dann steht das Telefon nicht mehr still. Ich hatte Sabine Surholt gebeten, ihre Regionalgruppen zu kontaktieren, damit sich Mütter aus Bayern melden und mir ihre Geschichte erzählen. Es melden sich Mütter aus ganz Deutschland. Ich sitze am Telefon, höre zu und schreibe mit.
Anke H. erzählt, wie sie einige Tage nach der Geburt eine tiefe Traurigkeit und Angst überfielen, weil sie ihr Wunschkind nicht so liebte wie andere Mütter. Und wie sehr sie sich fürchtete, dass ihr jemand das Baby wegnehmen könnte. Katrin G. beschreibt, wie ihre Welt nach der Geburt ihres Sohnes aus den Fugen geriet und sie von Suizidgedanken geplagt wurde. Sie alle landeten bei Schatten & Licht und fanden dort Unterstützung. „Schatten & Licht war für mich eine große Hilfe, wenn auch erst bei meiner zweiten Schwangerschaft. Ich analysierte, warum die Depression ausgebrochen war und was ich machen könnte, um die auslösenden Stressfaktoren auszuschalten“, sagt Andrea H. aus München. Zum Schluss sind es elf Geschichten, die ich aufschreibe. Sabine Surholt und ich beschließen, daraus eine Broschüre zu machen. Fast ein Jahr arbeiten wir an der Fertigstellung. Im Januar 2014 stellen wir sie der Öffentlichkeit vor.
Digitale Angebote für betroffene Mütter
Sabine Surholt und ich telefonieren im Frühjahr 2022. Viele Jahre sind seit unserem gemeinsamen Projekt vergangen. Die Digitalisierung hat die Arbeit des Selbsthilfevereins verändert. Heute können die betroffenen Mütter auch online an den Gruppentreffen teilnehmen. Wir sprechen außerdem über die neue App „mamly“, über die TK-versicherte Frauen während der Schwangerschaft und im ersten Jahr begleitet werden können. Entwickelt wurde die App von Gynäkologinnen und Gynäkologen, Psychologinnen und Psychologen sowie Hebammen. „Schwangere sollten bei Belastungen, wie Ängsten und Sorgen, kurzfristig und niedrigschwellig unterstützt werden. „mamly“ erkennt diese sonst häufig verborgenen Belastungen und macht den werdenden Müttern verschiedene digitale Angebote“, sagt Christine Vietor aus dem TK-Versorgungsmanagement. „Achtsamkeits- und Yoga-Übungen helfen den werdenden Müttern, sich zu entspannen und gelassener und mental gestärkt durch die Schwangerschaft zu kommen“, ergänzt Vietor. Neben Informationen zur körperlichen und psychischen Gesundheit steht den Nutzerinnen bei Bedarf auch ein persönliches Coaching zur Verfügung. „mamly“ ist ein zertifiziertes Medizinprodukt, die Inhalte basieren auf wissenschaftlichen Studien. Krisen sollen so gar nicht erst entstehen. Und wenn es doch zum Notfall kommt, verweist „mamly“ neben anderen Beratungsstellen auch auf Schatten & Licht.
„Wer schon vor der Geburt weiß, was eine peripartale Depression ist und wie sie entsteht, kann besser für sich sorgen und sich frühzeitig Hilfe holen. Die App mamly kann genau das erreichen.“
Sabine Surholt
Aufklärung und Wissen um die Krankheit bleiben das A und O, um schwere Depressionen zu vermeiden. Davon ist auch Surholt überzeugt. „Wer schon vor der Geburt weiß, was eine peripartale Depression ist und wie sie entsteht, kann besser für sich sorgen und sich frühzeitig Hilfe holen. Die App „mamly“ kann genau das erreichen“, sagt Surholt. Tatsächlich melden sich Betroffene heute in einer früheren Phase der Krankheit beim Verein. Einer der Gründe ist, dass Hebammen mittlerweile in der Ausbildung lernen, peripartale Erkrankungsbilder zu erkennen. Für Pädagogen und Therapeutinnen bietet der Verein seit ein paar Jahren Online-Seminare zur Erkennung und zum Umgang mit Krisen rund um die Geburt an – sie sind immer ausgebucht. Und: Berühmte Frauen wie die Sängerin Adele, die Schauspielerin Gwyneth Paltrow oder das Model Chrissy Teigen sind mit ihrer Wochenbettdepression an die Öffentlichkeit gegangen und haben auf das Thema aufmerksam gemacht.
Auch die Versorgung Betroffener ist besser geworden. Schatten & Licht hat seit seiner Gründung vor 25 Jahren viel erreicht. „Trotzdem ist die Krankheit weiterhin ein Tabuthema“, so die Vorsitzende. Schätzungsweise 100.000 Frauen sind jährlich von einer seelischen Krise rund um die Geburt betroffen. Bei Schatten & Licht bekommen sie Hilfe und Antworten auf ihre Fragen. Sabine Surholt sagt, dass sie irgendwann in Rente gehen möchte. Ich sage, dass ich jetzt schon weiß, dass ihr Telefon dann trotzdem nicht stillstehen wird. Wir müssen beide lachen.
Weitere Details
„mamly“ ist die neue, digitale Begleitung der TK für alle TK-versicherten Schwangeren und frisch gebackenen Mamas. Die App ist Achtsamkeitstrainerin, Schwangerschafts-Expertin, Yogalehrerin und Coach in einem und damit eine echte Innovation unter den zertifizierten Medizinprodukten. Mehr zur App finden Sie hier.