Gerade in Schaltjahren ein treffendes Datum: Der 29. Februar ist schließlich das seltenste Datum des Jahres und steht nur alle vier Jahre im Kalender. Im Interview gibt Dr. Holm Graessner, Geschäftsführer des Zentrums für seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Tübingen, einen Einblick in die Arbeit des Zentrums.
In Tübingen wurde im Jahr 2010 das erste Zentrum für seltene Erkrankungen (ZSE) gegründet. Was hat sich seitdem für Betroffene von seltenen Erkrankungen (SE) geändert?
In den vergangenen Jahren hat sich sehr viel getan. Am Zentrum selbst konnte unter anderem das Angebot spezialisierter Ambulanzen für verschiedene seltene Erkrankungen und Erkrankungsgruppen von acht auf 16 gesteigert werden. Darüber hinaus wurde am ZSE eine Ambulanz für Menschen mit Verdacht auf eine seltene Erkrankung eingerichtet.
Durch eine neue Versorgungsstruktur konnte die Diagnosezeit für Patientinnen und Patienten deutlich gesenkt werden. Das Kernelement dabei sind interdisziplinäre Fallkonferenzen, in denen Ärztinnen und Ärzte unterschiedlichster Fachrichtungen Fälle besprechen und gemeinsam Behandlungskonzepte entwickeln.
Wie viele Menschen in Deutschland sind von einer seltenen Erkrankung betroffen?
Schätzungen gehen von rund vier Millionen Menschen aus. Die genaue Zahl ist unbekannt, weil für viele dieser Erkrankungen lange keine genaue Kodierung im Gesundheitssystem möglich war. Für die Betroffenen ist das ein Problem, denn für die Entwicklung neuer Therapien sind genaue Diagnose-Informationen hochrelevant. Seit 2023 gibt es in Deutschland ein verpflichtendes System zur Kodierung seltener Erkrankungen. Am ZSE hier in Tübingen nutzen wir es schon länger. Bei uns ist die Zahl der behandelten SE-Patientinnen und Patienten über die letzten vier Jahre relativ stabil geblieben. Aktuell versorgt das ZSE Tübingen jährlich rund 10.000 SE-Patientinnen und Patienten ambulant und stationär.
Vor 13 Jahren wurde in Tübingen bundesweit auch die erste Fortbildungsakademie für seltene Erkrankungen (FAKSE) ins Leben gerufen. Welche Auswirkungen hatte das auf die Behandlung und den Umgang von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten mit Betroffenen?
Seit der Gründung der Fortbildungsakademie wurden über 2.500 Ärztinnen und Ärzte intensiv über verschiedene Erkrankungen und Erkrankungsbilder aufgeklärt und sensibilisiert. Diese Sensibilisierung der Ärztinnen und Ärzte, dass sie bei Indizien einer unklaren Erkrankung (Symptome treten bereits im Kindes- und Jugendalter auf, sind oft chronisch und fortschreitend, betreffen oft mehrere Organsysteme und auch Angehörige haben Symptome) auch an eine SE denken sollten, hat dazu geführt, dass Patientinnen und Patienten früher an spezialisierte Zentren verwiesen werden. Nach wie vor sind die Angebote der ZSE in Deutschland nicht überall bekannt. Die Zentren müssen hier weiterhin Aufklärungsarbeit leisten. Grundsätzlich lässt sich aber feststellen, dass die Sichtbarkeit der SE in der Gesellschaft deutlich größer ist als noch vor 14 Jahren.
Seltene Erkrankungen
Weltweit gibt es nach Schätzungen des Bundesgesundheitsministeriums über 6.000 verschiedene seltene Krankheiten. Eine Erkrankung gilt als selten, wenn höchstens fünf von 10.000 Personen von ihr betroffen sind. Meistens sind sie genetisch bedingt.
Die Uniklinik Tübingen ist Teil eines Netzwerks aus 22 Kliniken, in denen mit Hilfe innovativer Gendiagnostik, der sogenannten Exom-Sequenzierung, die Diagnose seltener Erkrankungen verbessert wird. Die TK ist Vertragspartner dieses Netzwerks. Wie sind Ihre Erfahrungen mit der Exom-Diagnostik?
In dem Netzwerk werden interdisziplinäre Fallkonferenzen unter Einbeziehung klinischer Expertinnen und Experten unterschiedlichster Fachrichtungen sowie der Humangenetik durchgeführt. Wenn andere Ansätze zur Diagnose nicht zum Erfolg führen, wird bei Bedarf das Exom betrachtet, also ein kleiner Teil der menschlichen Gene, der aber oft für die Entstehung von Krankheiten verantwortlich ist. In einer weiteren Fallkonferenz werden die genetischen Befunde dann interdisziplinär besprochen und eingeordnet. Dieses Vorgehen ermöglicht, dass bei rund 30 Prozent der Patientinnen und Patienten eine gesicherte Diagnose gestellt werden – und das im Durchschnitt innerhalb eines halben Jahres, was sehr bemerkenswert ist, da die Diagnose bei Kindern vorher durchschnittlich vier und bei Erwachsenen sogar acht Jahre gedauert hat.
Genetische Diagnostik im Verbund mit Künstlicher Intelligenz führt zu personalisierter Medizin, die ja gerade bei seltenen Erkrankungen viel verspricht. Welche Perspektiven eröffnet die KI Patientinnen und Patienten mit seltenen Erkrankungen?
In den interdisziplinären Fachzentren des ZSE Tübingen arbeiten Expertinnen und Experten vieler verschiedener Fachrichtungen, die sich fachübergreifend austauschen und über einen großen Wissens- und Erfahrungsschatz verfügen. Unsere Zentren weisen alle notwendigen Strukturen auf, um Patientinnen und Patienten mit SE optimal diagnostizieren und behandeln zu können. Allerdings kann trotz der Zunahme an diagnostischen Methoden nicht jeder Patientin oder jedem Patienten eine Diagnose gestellt werden. Aufgrund der Komplexität, Variabilität und unspezifischen Symptomatiken ist die Diagnosestellung von SE nach wie vor herausfordernd. Digitale Diagnoseunterstützungssysteme könnten zukünftig wichtige Helfer bei der Beschleunigung einer erfolgreichen Diagnose sein. Die angebotenen Systeme sind bisher aber nicht so ausgereift, dass die Diagnose tatsächlich beschleunigt wird. Zu komplex sind die Symptome, zu groß die Zahl der SE und zu klein die Fallzahlen, als dass es schon verlässliche Anwendungen gäbe. Damit ein KI-System eine SE als solche erkennen kann, braucht es mehrere Hundert oder besser Tausende von hochwertigen Fallbeschreibungen. Insgesamt wäre es erfreulich, wenn neuartige Algorithmen des maschinellen Lernens entwickelt würden, die mit erheblich weniger Datensätzen zu deutlich besseren Ergebnissen kämen.
Welche Chancen bieten hier die unlängst verabschiedeten Digitalgesetze?
Durch die Digitalgesetze werden in Zukunft wichtige Behandlungsinformationen wie Arztbriefe oder Befundberichte oft über die ePA digital zu Verfügung stehen. Dies könnte die Suche nach Markern für SE erleichtern. Einheitliche Datenstandards können dabei für die Interoperabilität von Daten sorgen. Der Zugriff und die Nutzung dieser Daten für eine bessere personalisierte Versorgung oder für Forschungsfragen wird somit erleichtert. Diese Instrumente können ein wichtiger Baustein sein, die Versorgung von Menschen mit SE immer weiter zu verbessern.