Maurice Dahm

„Die Gesundheitspolitik hat auf EU-Ebene einen nie dagewesenen Stellenwert“

Die Arbeit der Europäischen Union (EU) ist häufig nicht so präsent wie die nationale Politik. Trotzdem werden auf EU-Ebene viele wichtige Weichenstellungen vorgenommen – auch im Gesundheitswesen. Über die aktuellen Entwicklungen und die Rolle der Gesundheitspolitik im Europawahlkampf haben wir im Interview mit Carla Cramer, Vertreterin der gesetzlichen Krankenversicherung in Brüssel, gesprochen.

Frau Cramer, Sie vertreten die Deutsche Sozialversicherung in Brüssel und damit die Interessen der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Das Thema Gesundheit ist in Europa aber noch sehr nationalstaatlich geprägt. Mit welchen Themen beschäftigt sich die EU derzeit im Bereich Gesundheitswesen?

Die Europäische Union hat im Bereich der Gesundheit nur begrenzte Zuständigkeiten, die hauptsächlich darauf abzielen, die öffentliche Gesundheit zu schützen, grenzüberschreitende Gesundheitsrisiken zu bekämpfen und die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern. Mehr Spielraum gibt es vor allem, wenn es um Arzneimittel und Medizinprodukte geht. Diese unterliegen den Regeln des Binnenmarktes. So werden in der EU derzeit mit der Arzneimittelreform wichtige Weichen gestellt, etwa für eine hochwertige und bezahlbare Versorgung mit Arzneimitteln und Medizinprodukten und deren zuverlässige Verfügbarkeit durch eine Stärkung von Produktions- und Lieferketten.

Die EU hat vor ein paar Jahren ebenfalls mehr europäische Koordination bei den wissenschaftlichen Bewertungen von neuen Gesundheitstechnologien auf den Weg gebracht. Die gemeinsamen wissenschaftlichen Bewertungen können dann von den Mitgliedstaaten genutzt werden, um über Preise und Erstattungen für diese Technologien zu entscheiden. Uns beschäftigen aber auch die Umsetzung des Europäischen Plans zur Krebsbekämpfung, Fragen der Patientenmobilität oder die Lehren, die aus der Coronapandemie gezogen wurden – und noch immer werden.

Carla Cramer ist seit 2022 für die Vertretung der Deutschen Sozialversicherung in Brüssel zuständig.

Die EU-Institutionen haben sich im März nach langen Verhandlungen auf die Schaffung des Europäischen Gesundheitsdatenraums (EHDS) geeinigt. Welche Auswirkungen hat das auf die gesetzliche Krankenversicherung und die Versicherten in Deutschland und wie profitieren sie davon?

Der EHDS zielt darauf ab, den Zugang zu und die Kontrolle über persönliche elektronische Gesundheitsdaten sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene zu verbessern. Die Digitalisierungsgrade im Gesundheitswesen in Europa variieren sehr stark. Mit dem EHDS bringt die Europäische Kommission die Mitgliedstaaten dazu, die Digitalisierung im Gesundheitswesen voranzutreiben. Obwohl die Digitalgesetze ein erster Schritt waren, hat auch Deutschland da noch Nachholbedarf.

Mit dem EHDS sollen zukünftig alle EU-Bürgerinnen und Bürger ihre Gesundheitsdaten nutzen können, wenn sie sich in einem anderen Land aufhalten. Beispielsweise könnte – wenn der Versicherte möchte – eine Ärztin in Spanien mit wenigen Klicks die Krankengeschichte, Medikation oder Untersuchungsergebnisse einsehen – und zwar in ihrer Landessprache. Dadurch müssen Untersuchungen nicht wiederholt werden, was Patientinnen und Patienten schützt und Kosten spart. Dies ist jedoch nicht alles: Einmal erhobene Gesundheitsdaten sollen – in pseudonymisierter oder anonymisierter Form – auch für die Wissenschaft, Industrie, öffentliche Institutionen und die Politik nutzbar sein. So könnten wichtige Daten grenzüberschreitend bei der Entwicklung von Arzneimitteln für seltene Krankheiten oder Medizinprodukten verwendet werden. Und von diesen Ergebnissen und neuen Innovationen können die Versicherten dann wiederum auch profitieren.

Die europäischen Gesundheitssysteme sind sehr unterschiedlich ausgestaltet. Wie sieht die Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Ländern sowie den EU-Politikerinnen und -Politikern aus?

In Brüssel knüpfen wir nicht nur enge Kontakte zu den europäischen Institutionen, sondern vor allem auch zu Vertreterinnen und Vertretern der Sozial- und Krankenversicherungen anderer Mitgliedstaaten, beispielsweise in unserem Europäischen Dachverband ESIP (European Social Insurance Platform). Die Gesundheitssysteme variieren stark – manche Kolleginnen und Kollegen sind überrascht zu erfahren, dass es in Deutschland über neunzig gesetzliche Krankenkassen gibt oder, dass wir das Selbstverwaltungsprinzip haben. Eine Besonderheit ist auch die Pflegeversicherung, die in Europa nur noch in drei anderen Mitgliedstaaten existiert.

Trotz dieser Unterschiede ist es wichtig, dass wir voneinander lernen können und uns austauschen. Besonders hinsichtlich gemeinsamer Herausforderungen, die alle Gesundheitssysteme betreffen. Fragen wie die Bewältigung der Digitalisierung im Gesundheitswesen oder die Anpassung an die Herausforderungen des Klimawandels für die gesundheitliche Versorgung betreffen uns alle. Auch die Gestaltung finanziell nachhaltiger Gesundheitssysteme und die innovative gesundheitliche Versorgung, beispielsweise bei der Verfügbarkeit neuartiger und innovativer Arzneimittel oder der Bekämpfung von Volkskrankheiten wie Krebs sind in unser aller Interesse. Daher ist es wichtig, dass wir zusammenarbeiten, auch mit verschiedenen Blickwinkeln. Dass wir in Brüssel vor Ort sind, ermöglicht uns, nicht nur als Interessenvertreter der GKV präsent zu sein, sondern auch als Ansprechpartner für andere Mitgliedstaaten.

Vom 6. bis 9. Juni 2024 finden die Europawahlen statt. Welche Rolle spielt die Gesundheitspolitik dabei?

Man darf nicht unterschätzen, welchen Einfluss das Europäische Parlament zum Beispiel auf den Klima-, Verbraucherschutz oder Wettbewerbspolitik in Europa, aber eben auch auf die Gesundheitspolitik hat. Durch die Coronapandemie hat die Gesundheitspolitik auf europäischer Ebene einen noch nie da gewesenen Stellenwert bekommen. Allen wurde bewusst, dass Gesundheit nicht national isoliert betrachtet werden kann, da sie uns alle betrifft. Angesichts der Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten ist Gesundheit in der öffentlichen Wahrnehmung wieder etwas in den Hintergrund gerückt. Das ist verständlich. Dennoch wünsche ich mir, dass die Bürgerinnen und Bürger sich der wichtigen Rolle der EU im Gesundheitsbereich bewusst werden. Wenn man sich die Wahlprogramme der Parteien zur Europawahl anschaut, findet man viele Schwerpunkte, wie Abtreibungsrechte oder die Verfügbarkeit von Arzneimitteln, Medizinprodukten oder auch Pflegepersonal. Dazu haben alle Parteien eine Linie und insofern ist es relevant, sich das anzuschauen und dann eben auch an den entsprechenden Stellen das Kreuz zu machen.



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