Christiane Haun-Anderle

Chancen der ePA: Warum fragen wir zuerst nach den Nachteilen?

Krebspatientin mit 27 – ein Schock für Christiane Haun-Anderle, die bei der TK in Thüringen Pressearbeit macht. Ein Bericht über Papierberge an Dokumenten und die Hoffnung, dass mit einer elektronische Patientenakte künftig Menschen noch schneller und besser geholfen werden kann.

Kurz nach meinem 27. Geburtstag habe ich in meiner rechten Brust etwas Festes gespürt, das sich seltsam anfühlte. Zufällig. Beim Duschen. „Könnte bösartig, aber auch gutartig sein. Fünfzig-fünfzig“, erklärte meine Frauenärztin. Die Ärztin, bei der ich eine Woche später die Biopsie machen ließ, meinte: „Ich mache Ihnen wenig Hoffnung.“

Diagnose „Bösartige Neubildung der Brustdrüse“

Sie hatte recht. Die Diagnose: „Bösartige Neubildung der Brustdrüse“, also Brustkrebs. Wie häufig bei Krebserkrankungen in jungen Jahren war es ein besonders aggressiver Tumor. Eine Chemotherapie sollte verhindern, dass er weiterwächst. Sie schlug nicht an. Der Tumor wuchs und war inzwischen größer als eine 2-Euro-Münze. Deswegen wurde ich schneller operiert als geplant. Es folgte eine dreimonatige Chemo inkl. Haarausfall. Danach Bestrahlung. Dann Reha.

„Ich habe Ihnen meinen Ordner mit Befunden mitgebracht.“

Außerdem trug ich Arztbriefe von Uniklinik zur Gynäkologin, zur Hausärztin und wieder zurück. Ich empfand es als sinnlos, die Briefe zu verschicken, wenn ich eh zu den Ärzten gehe. Jeden dieser Befunde ließ ich mir in Kopie geben. Die Dicke meines Ordners passt heute nicht mehr zwischen Daumen und Zeigefinger.

Ungefähr als meine Haare wieder schulterlang waren, bin ich in eine andere Stadt gezogen. Mein neuer betreuender Gynäkologe ist Experte für Brustkrebs. „Ich habe Ihnen meinen Ordner mit Befunden mitgebracht“, sagte ich damals. Seinen Blick, eine Mischung aus Ungläubigkeit und Bewunderung, vergesse ich wohl nie. Er hat sich die für ihn relevanten Daten gescannt.

Als die ePA endlich an den Start ging, habe ich innerlich gejubelt. Ich hätte sie gern schon 2013 gehabt, noch besser 2012. Warum? Weil ich mir weder merken kann und will, wann mein Port eingesetzt wurde, noch welche Chemotherapeutika ich bekommen hatte oder welche konkrete Tumorart ich hatte. Zum Glück habe ich meinen Ordner.

E-Akte hätte Leid und Krankheitstage ersparen können

Warum 2012? Ein halbes Jahr vor dem Knotentasten hatte ich eine depressive Episode. Ein beiläufiges „Na, wie geht’s dir?“ hat mich in Tränen ausbrechen lassen. Ich konnte nicht länger als drei Stunden am Stück schlafen, weil ich dann mit Panik aufgewacht bin. Ich hatte keine Kraft und mich hat so ziemlich alles überfordert. Jede kleinste Hürde wirkte wie eine Aufgabe, die ich nicht im Stande war zu bewältigen. Vor allem hatte ich Angst vor diesem Zustand, weil mir zu lange niemand sagen konnte, was ich dagegen tun kann. Weil einige nicht mal anerkannten, dass es ein echtes Problem gab.

Im Nachhinein war das eine gute Reihenfolge, denn die Werkzeuge, die mir die Psychologin und mein Achtsamkeitslehrer in dieser Zeit gezeigt haben – Körperwahrnehmung, Atemtechniken, Wissen darüber, wie unser Denken und Fühlen funktioniert – trugen mich sehr gut durch die Krebserkrankung. Ich wusste, dass harte Zeiten vorbeigehen. Ich wusste, dass man nicht alles glauben sollte, was man denkt.

Als die ePA endlich an den Start ging, habe ich innerlich gejubelt. Ich hätte sie gern schon 2013 gehabt, noch besser 2012. Warum? Weil ich mir weder merken kann und will, wann mein Port eingesetzt wurde, noch welche Chemotherapeutika ich bekommen hatte oder welche konkrete Tumorart ich hatte.

Die medizinischen Unterlagen und Krankschreibungen aus dieser Zeit habe ich leider nirgends aufgehoben oder eingepflegt. Vielleicht hätte mein neuer Hausarzt sonst aufgehorcht, als ich 2020 das erste Mal mit Heulkrampf vor ihm saß. Oder beim zweiten Mal. Oder spätestens beim dritten Mal, 2021. Vielleicht wäre ihm dann eingefallen, dass eine schon einmal angeknackste Psyche genau wie ein schon einmal angeknackster Fuß oder Rücken schneller wieder leiden könnte, auch wenn lange alles in Ordnung war. Vielleicht hätte ich dann nicht erst wieder stabil genug werden müssen, um selbst zu merken, dass ich so etwas ähnliches ja schon einmal erlebt habe. Dass ich wieder Hilfe von außen brauche. Sicher hätte mir dann schneller geholfen werden können. Sicher hätte das Krankheitstage und mir und meiner Familie Kraft und Anstrengung gespart.

Angst vor Stigma oder Chance auf Heilung?

Darüber denke ich immer wieder nach, wenn über die ePA gesprochen wird. Ich frage mich, ob Angst vor Stigmata wichtiger sein sollte als die Chance auf eine bessere Diagnose und schnellere Heilung. Wieso fragen wir zuerst nach den Nachteilen einer Lösung und vergessen darüber die Chancen? Ich bin dankbar dafür, dass Transparenz hoffentlich bald Normalität und nicht mehr Ausnahme sein wird. Und ich bin sicher, dass das für kranke Menschen ein enormer Vorteil ist.



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