Herr Prof. Göbel, wie äußern sich Kopfschmerzen und Migräne bei Kindern und Jugendlichen im Vergleich zu Erwachsenen?
Kinder sind heute ganz anderen Reizen ausgesetzt als früher, ihr Nervensystem wird viel intensiver gefordert und dabei leider auch häufiger überlastet. Wenn die körpereigene Schmerzabwehr die Schmerzimpulse nicht mehr kontrollieren kann, tritt der Spannungskopfschmerz auf, der 54 Prozent aller Kopfschmerzen ausmacht: Ein dumpf drückender Schmerz im Kopf- und Nackenbereich, der von 30 Minuten bis zu sieben Tage andauern kann. Begleitsymptome wie Übelkeit oder Erbrechen treten nicht auf. Meist lässt der Schmerz bei Bewegung an der frischen Luft nach.
Bei Migräneschmerzen hingegen tut jede Erschütterung, jede Bewegung weh. 38 Prozent aller Kopfschmerzen werden durch Migräne verursacht, die zu wichtigen Teilen genetisch bedingt ist. Sogenannte Trigger, etwa Stress oder Schlafdefizite, lösen anfallartige Attacken mit Begleitsymptomen wie Übelkeit oder Schwindel aus. Bei Kindern beginnen die Schmerzen oft morgens aus dem Schlaf heraus und klingen nach zwei bis drei Stunden wieder ab. Bei Erwachsenen kann sich eine Attacke bis zu drei Tage erstrecken.
Was macht die Diagnose von Migräne bei Kindern und Jugendlichen so schwierig?
Bei Kindern und Jugendlichen sehen die Beschwerden oft anders aus als bei Erwachsenen. Die Anzeichen für Migräne sind subtil. Den Kindern wird beim Autofahren schnell schlecht, sie fühlen sich schwindelig und unwohl. Es treten Übelkeit und Bauchschmerzen auf. Erwachsene können die Symptome aus ihrem Wortschatz gut beschreiben und mitteilen. Kinder sind oft nicht in der Lage, Schmerzen durch Worte auszudrücken, diese zu lokalisieren und mitzuteilen. Sie sagen Bauchweh, meinen aber Migräne. Sie können nicht angeben, dass sie geruchs-, lärm- oder lichtüberempfindlich sind. Daher wird kindliche Migräne häufig übersehen und nicht beachtet.
Wie werden Kopfschmerzen und Migräne bei Kindern und Jugendlichen behandelt?
In der medikamentösen Therapie der Migräne ergeben sich zum Erwachsenenalter deutliche Unterschiede. Gerade bei der kindlichen Migräne ist es erforderlich, dass zu Beginn der Attacke die Medikamente zum frühestmöglichen Zeitpunkt in vorsichtiger Dosierung eingenommen werden. Man beginnt zunächst mit der Gabe eines Medikamentes gegen Übelkeit, um eine verbesserte Aufnahme und Wirkung des Schmerzmittels einzuleiten. Im Anschluss kann nach einem Zeitraum von 15 Minuten ein Schmerzmittel verabreicht werden. Bei Spannungskopfschmerzen sollte man möglichst auf Schmerzmittel verzichten.
Erwachsene können die Symptome aus ihrem Wortschatz gut beschreiben und mitteilen. Kinder sind oft nicht in der Lage, Schmerzen durch Worte auszudrücken, diese zu lokalisieren und mitzuteilen.
Und wie sieht die vorbeugende Behandlung aus?
Migräne und Kopfschmerzen sind komplexe, individuelle Erkrankungen, die eine ebenso individuelle und komplexe Behandlung benötigen. Gerade bei Kindern muss in der Therapie das Zusammenspiel von Psyche und Körper eingehend betrachtet werden, um Kopfschmerzerkrankungen vorzubeugen. Daher sollten Kinder und Eltern ganz besonders auf ein ausgeglichenes und regelmäßiges Leben achten, ungesunde Lebensgewohnheiten und Verhaltensweisen identifizieren und aufgeben. Dazu gehört zum Beispiel das hastige Frühstück oder das aufgrund des zu lange Im-Bett-Liegens ausgelassene Frühstück vor der Schule. In solchen Situationen bekommen die Kinder dann typischerweise gegen 9:00 Uhr Kopfschmerzen.
Wie schätzen Sie die Auswirkungen der Corona-Maßnahmen, wie Homeschooling, auf das Auftreten von Kopfschmerzen und Migräne bei Kindern und Jugendlichen ein?
Während der Pandemie führte Homeschooling zu einer deutlichen Veränderung der Tagesroutinen von Kindern. In einer aktuellen Untersuchung der State University New York wurde deren Auswirkung auf das Kopfschmerzgeschehen untersucht. Interessanterweise zeigte sich eine statistisch signifikante Verbesserung der Kopfschmerzsituation. Homeschooling und digitales Lernen können Vorteile hinsichtlich des Auftretens von Migräne und Kopfschmerzen haben. Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen führen dies auf die Änderung des Lebensstils während der Pandemie zurück, was zeigt, dass Verhaltensmaßnahmen aktiv in das Kopfschmerzmanagement einbezogen werden sollten.