Herr Prof. Busse, Sie haben sich intensiv mit der Krankenhauslandschaft in Deutschland auseinandergesetzt. Was läuft derzeit schief?
Viele unserer Kliniken sind in den 1970er-Jahren entstanden – die Medizin war damals aber eine andere als heute. Nehmen wir Krankheitsbilder wie den Herzinfarkt oder Schlaganfall. Früher wurden diese völlig anders behandelt: Ein Herzinfarktpatient sollte sich vor allem erholen, wo das Bett dafür stand, war egal. Heute wissen wir, dass das akute Notfälle sind, die nach besonderen Behandlungsmöglichkeiten verlangen; Linksherzkatheter und Stroke Unit sind notwendig.
Auch die Behandlung von Krebs hat sich komplett geändert. Was im allgemeinen Sprachgebrauch zum Beispiel Brustkrebs ist, sind je nach Rezepturstatus im medizinischen Sinne sehr unterschiedliche Krankheiten, die unterschiedliche Expertise verlangen, wie es sie in ausgewiesenen Krebszentren gibt. Mittlerweile herrschen also ganz andere Ansprüche an die technische wie personelle Ausstattung und Verfügbarkeit der Krankenhäuser.
Diese neuen Behandlungsmöglichkeiten sind doch aber geschaffen worden.
Das stimmt, aber wir haben es unterlassen, die Versorgung der Patientinnen und Patienten in diesen spezialisierten Zentren zu konzentrieren. Nach wie vor behandelt fast jedes Krankenhaus noch alles – eben selbst dann, wenn die fachliche Expertise oder das technische Equipment fehlen. Das wird der heutigen Medizin nicht mehr gerecht.
Der Krankenhaussektor in Deutschland wurde zwar etwas verkleinert, aber längst nicht so stark, wie es die therapeutischen Verbesserungen erlauben würden. Das führt zum Beispiel dazu, dass auch Erkrankungen stationär behandelt werden, die viel besser ambulant versorgt werden könnten. Unnötige Klinikbehandlungen binden wiederum Personal – vor allem Pflegepersonal – das anderswo dringend gebraucht wird.
Warum ist das nahegelegene Krankenhaus nicht immer das Beste?
Wir legen hierzulande viel Wert darauf, dass ein Krankenhaus in der Nähe ist. Damit zielen wir auf die Erreichbarkeit der Krankenhäuser ab, nicht aber auf die Erreichbarkeit einer adäquaten Versorgung. Diese Milchmädchenrechnung beruht auf der Annahme, dass alle Kliniken über die gleiche Ausstattung verfügen. So wichtiges Equipment wie der Linksherzkatheter ist aber in deutlich weniger als der Hälfte aller Kliniken verfügbar.
Wenn ich mich also zufällig und ohne genauere Informationen in die nächstgelegene Klinik begebe, liegt die Wahrscheinlichkeit bei mehr als 50 Prozent, dass das Krankenhaus für meine spezifische Krankheit gar nicht adäquat ausgestattet ist. Ich bekomme die bestmögliche Therapie also entweder verzögert durch einen Weitertransport oder im schlimmsten Fall gar nicht. Das ist ein echtes Problem.
Wovon hängt es ab, ob jemand mit einem Schlaganfall oder Darmkrebs eine optimale Behandlung erhält?
Das ist häufig purer Zufall. Zunächst müssen wir unterscheiden: Es gibt Fälle, die per Überweisung gesteuert werden und es gibt Fälle, die ohne Einweisung über die Notaufnahme ins Krankenhaus kommen. Die Quote liegt bei jeweils 50 Prozent.
Das Paradoxe daran: Selbst in Fällen mit Einweisung werden Patientinnen und Patienten mit schweren Erkrankungen wie Krebs selten in spezialisierten Zentren behandelt. Bauchspeicheldrüsenkrebs etwa wird nur in 30 Prozent der Fälle in dafür vorgesehenen Krebszentren behandelt, die große Mehrheit in anderen Klinken. Die Sterblichkeit bei der initialen Operation ist in Krankenhäusern, die diese nicht regelmäßig durchführen, aber doppelt so hoch wie in größeren Zentren.
Wieso ist das so?
In der Bevölkerung fehlt ausreichendes Wissen und Bewusstsein darüber, welches Krankenhaus welche Sterblichkeit hat. Teilweise gilt das auch für die einweisenden Ärztinnen und Ärzte. Deshalb können die keine entsprechende Steuerung in geeignete Kliniken vornehmen. Die Konsequenz müsste sein, dass Kliniken ohne entsprechende personelle und technische Ausstattung die bestimmte Leistung auch gar nicht erbringen dürfen.
Woran hakt es also?
Die Krankenhauslandschaft ist vielfältig. Es gibt nicht nur die privaten Krankenhauskonzerne: Auch Kommunen und Landkreise, große gemeinnützige Organisationen wie das Deutsche Rote Kreuz und die Evangelische oder Katholische Kirche sind Träger von Krankenhäusern. Sie alle bilden eine breite Allianz, die die Krankenhauslandschaft nicht nur gestalten, sondern auch Veränderungen aufhalten kann.
Wir müssen die Leistungen der einzelnen Krankenhäuser transparent machen, also offenlegen, was eine Klinik leistet, wie sie ausgestattet ist und welche Ergebnisse dort erzielt werden.
Was muss sich im Sinne der Patientinnen und Patienten ändern?
Erstens, wir müssen mit den Bürgerinnen und Bürgern, die ja auch Patientinnen und Patienten sind, einen ehrlichen Dialog führen – in dem auch die Politik aufgeschlossen dafür ist, im Sinne der Bürger zu entscheiden. Und das tut sie nicht, wenn sie jedes noch so kleine Klinikum aufrechterhält.
Viele Schieflagen sind den Menschen nicht klar. Sie vertrauen darauf, dass das nächstgelegene Krankenhaus für ihre gute Versorgung zuständig ist. Wir müssen die Leistungen der einzelnen Krankenhäuser transparent machen, also offenlegen, was eine Klinik leistet, wie sie ausgestattet ist und welche Ergebnisse dort erzielt werden. Wie häufig zum Beispiel Reoperationen durchgeführt werden. Wir wollen Krankenhäuser nicht dafür belohnen, möglichst viel zu machen, sondern dafür, die indizierten Behandlungen möglichst gut zu machen. Das ist im Patientensinne. Niemand hat etwas davon, wenn er zwar gleich um die Ecke, dafür aber in einem schlecht ausgestatteten Klinikum mit schlechtem Ergebnis behandelt wird.
Zweitens, wir reden bei der Krankenhausplanung bisher immer nur über Krankenhäuser und wie wir sie optimieren. Dabei sollten wir auch darüber sprechen, ob Patientinnen und Patienten in anderen Einrichtungen nicht viel besser versorgt wären. Die Planung am Bedarf und an den Interessen der Bürgerinnen und Bürger auszurichten, das wäre ein wichtiger Paradigmenwechsel.