Silvia Wirth

Wie Daten die Versorgung revolutionieren können

Wie sinnvoll ist die Routineauswertung von Gesundheitsdaten? Was bringt das Datennutzungsgesetz? Ein Interview mit Dr. Anna Moreno, Leiterin der Geschäftsstelle des Arbeitskreises Medizinischer Ethik-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland e.V..

Der Sachverständigenrat Gesundheit kritisiert fehlende datenbasierte Steuerungsinstrumente. Die Corona-Pandemie hat noch einmal verdeutlicht: Es gab keine Echtzeitdaten über aktuelle Fallzahlen und später auch keine Daten für die Priorisierung der Impfdosen. Wie sehen Sie das?

Der Sachverständigenrat Gesundheit muss sich wie Sisyphus am Fuß des Berges vorkommen! Er hat bereits 2014 unter Hinzuziehung von sekundär genutzten Daten auf die unerklärlichen regionalen Unterschiede in der Behandlungsqualität hingewiesen, deutlich von Fehlversorgung gesprochen und eine datenbasierte Abhilfe angemahnt. Im Bereich Arzneimittelversorgung lag der Anteil von Versicherten, die mindestens ein potenziell inadäquates Arzneimittel verordnet bekamen, bei 20 Prozent. Das ist eine erschreckende Zahl! Im Jahr 2018, also noch vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie, hat der Rat erneut auf die Notwendigkeit einer informationsbasierten, bedarfsgerechten Gesundheitsversorgung hingewiesen. Die Covid-19-Pandemie demaskierte dann den eklatanten Mangel bei der Nutzung von Gesundheitsdaten und erklärt manchen Blindflug in der Steuerung der Krise.

Was ist die Sekundärnutzung von Gesundheitsdaten?

Immer wenn Menschen zum Arzt gehen und behandelt werden, entstehen Daten. Ob Blutergebnisse, MRT- oder Röntgenbilder, Informationen über Diagnose und Behandlung, Rezepte oder Abrechnungsdaten – all diese Informationen sind an den unterschiedlichsten Stellen im Gesundheitswesen als sogenannte Primärdaten abgelegt. Wenn diese Informationen für die Forschung freigegeben werden, spricht man von einer “Sekundärnutzung”. Da Gesundheitsdaten in Deutschland als sensibelste Daten eines Menschen eingestuft werden, unterliegt die Nutzung strengen datenschutzrechtlichen Vorschriften und datenethischen Vorgaben.

Dr. Anna Moreno, Leiterin der Geschäftsstelle des Arbeitskreises Medizinischer Ethik-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland e.V.

Was muss sich Ihrer Ansicht nach im Umgang mit Daten ändern?

Die wichtigsten Steuerungsinstrumente für eine erfolgreiche Datenstrategie existieren längst und werden von unseren europäischen Nachbarn auch bereits effektiv angewandt. Was bisher fehlte, war die überzeugende Grundidee – das Gemeinsame, um die unterschiedlichen Interessenslagen bei der Datennutzung zu überwinden. Das Gesundheitsdatennutzungsgesetz ist ein wichtiger Schritt und bildet das Fundament, um die Akzeptanz in der Bevölkerung für die Nutzung von Gesundheitsdaten zu erhöhen. Kein Mensch möchte seine Gesundheitsdaten – selbst in anonymisierter Form – ausschließlich für das Gewinnstreben eines Digitalkonzerns hergeben.

Warum ist es sinnvoll, Daten zu nutzen, um potenzielle Gesundheitsrisiken für Versicherte zu erkennen – und warum ist das bislang nicht möglich?

Egal, ob es sich um Arzneimittelkatastrophen, die reihenweise Vertauschung von Prothesen oder um sehr spät erkannte Ausbrüche von Erregern wie etwa dem Darmbakterium EHEC im Jahr 2011 handelt: Man muss frühzeitig Muster aus Routinedaten generieren und Warnhinweise geben, um ein Gesundheitsrisiko frühzeitig aus den Gesundheitsdaten zu erkennen. Die technische Entwicklung und der gesetzliche Rahmen zur sekundären Nutzung von Gesundheitsdaten geben uns jetzt die Möglichkeit, zeitnah das potenzielle Risiko einzugrenzen. Es liegt auf der Hand und muss dennoch immer wieder vermittelt werden: Bei Komplikationen ist der durchschnittliche Versorgungsaufwand ein wichtiges Indiz. Hier schnell Muster zu erkennen und rechtzeitig einzugreifen, kann Gesundheitsrisiken für Versicherte deutlich minimieren.

Wie kann sich für Versicherte die Versorgung durch Routineauswertungen verbessern?

Verantwortungsvolle und gemeinwohlorientierte Routineauswertung von Gesundheitsdaten ist – nach aktuellem wissenschaftlichen Kenntnisstand – die effektive Methode, um einerseits die bereits beschriebenen Risiken zeitnah zu erkennen, aber auch um unerklärliche Brüche in der Versorgungskette zu identifizieren. Wenn wir auf das Sozialgesetzbuch Neuntes Buch umschwenken, so zeigen bereits einfachste Datenauswertungen zur Inanspruchnahme der Rehabilitation, wo durch Organisationsfehler die gesundheitliche Stabilisierung der Versicherten in Gefahr geraten kann. Auch unerwartete Rehospitalisierungen, bei denen datenbasiert ein vermeidbarer Zusammenhang erkennbar wird, haben ein großes Potenzial, die Versorgung der Versicherten zu verbessern. Die Versicherten sehen auf diese Weise, wie gemeinwohlorientierte Routineauswertungen die eigene Versorgung optimieren können. Futuristische Szenarien durch selbst ernannte IT-Experten schaffen hingegen kein Vertrauen.

Sie schlagen vor, dass die Auswertung von Krankenkassendaten genutzt wird, um Gesundheitsrisiken zu identifizieren. Warum sind gerade die Daten von Krankenkassen hier eine sinnvolle Grundlage?

Punktuelle Maßnahmen, wie das freiwillige Meldesystem, Fallberichte usw. können nicht effektiv und schnell genug mögliche Gesundheitsgefahren erkennen. Sie sind Momentaufnahmen, die oftmals über viele Monate zusammengetragen werden müssen. Krankenkassendaten bilden die gesamte Kette einer ausreichend großen Population ab. Das ist ihre Stärke.

Wie kann die geplante Gesetzesänderung im Gesundheitsdatennutzungsgesetz die Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Akteuren im System verbessern?

Ein Hauptgrund dafür, dass die bisherigen gesetzgeberischen Bemühungen zur Optimierung der Zusammenarbeit gescheitert sind, ist die fehlende Interoperabilität der IT-Systeme in den jeweiligen Sektoren. Diese Problematik wird von der geplanten Gesetzgebung nicht tangiert. Es ist jedoch zu erwarten, dass die Vorschrift im § 25b SGB V eine gemeinsame Verantwortungsebene zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern zur Vermeidung von Risiken schaffen wird. Eine Zusammenarbeit, bei der die Kasse Risiken identifiziert und die Ärzteschaft die Versicherten berät, kann und wird die Zusammenarbeit für mehr Sicherheit im Gesundheitssystem verbessern.

Zur Person

Dr. iur. Anna Moreno ist promovierte Juristin und Medizinethikerin. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehört das Themenfeld der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Sie arbeitet insbesondere zu Fragen der Digitalen Ethik, zur Schaffung der Interoperabilität im Gesundheitswesen und zum Einsatz von KI in Klinischer Forschung und Versorgungspraxis. Sie ist in verschiedenen Netzwerken junger Medizinethiker:innen aktiv und Gründungsmitglied der Young Ethics Experts sowie Mitglied des Aktionsbündnisses Patientensicherheit e.V. Sie ist Leiterin/Wissenschaftliche Referentin der Geschäftsstelle des Arbeitskreises Medizinischer Ethik-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland e.V. (AKEK).



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