Sie haben sich im jüngsten SVR-Gutachten mit der Nutzung von Gesundheitsdaten befasst. Wie gut sind wir bereits heute darin, vorhandene Daten zu nutzen?
Da sind wir in Deutschland leider auf dem Stand eines Entwicklungslandes. Wir haben in Europa Länder wie Dänemark oder Estland, die viel weiter sind. Dort gibt es seit 15 Jahren eine elektronische Patientenakte für alle Bürgerinnen und Bürger. In anderen Bereichen haben wir weniger Rückstand. In Kliniken oder Arztpraxen wird ja durchaus digital gearbeitet und erfasst, aber es fehlt uns ganz entscheidend an Vernetzung und Austausch. Wir haben noch zu viel Zettelwirtschaft und in der innerärztlichen Kommunikation sogar den Faxstandard. Kurzum: Es gibt noch viel zu tun, um den angesprochenen digitalen Rückstand aufzuholen.
Welche konkreten Möglichkeiten bietet eine stärkere und vernetzte Nutzung von Gesundheitsdaten?
Zunächst geht es darum, dass vorhandene Daten aus allen Bereichen sinnvoll zusammengeführt werden, damit die Informationen für die Behandlung von Patientinnen und Patienten auch in Echtzeit vollständig, qualitativ hochwertig und strukturiert zur Verfügung stehen. Ziel ist eine bestmögliche Behandlung. Das ist nur möglich, wenn alle Informationen, die notwendig oder nützlich sind, zum richtigen Zeitpunkt verfügbar sind. Die Realität sieht momentan leider anders aus. Ein weiterer wichtiger Aspekt: Wir wissen heute etwa, dass es nicht die eine Krebserkrankung und damit im Einzelfall auch nicht die eine Therapie gibt. Für die heute notwendige Präzisionsmedizin benötigen wir große Datenmengen, die wir mit künstlicher Intelligenz analysieren und daraus Therapievorschläge ableiten. Daten teilen heißt besser heilen.
Ziel ist und muss immer das Patientenwohl sein. Wenn die Forschung dazu beitragen kann, dann sollte die Datennutzung nicht nur gestattet werden, sie ist vielmehr geboten.
Sie sprechen im Gutachten von einem dynamisch lernenden Gesundheitssystem. Was ist damit gemeint?
Wir benötigen Gesundheitsdaten ja nicht nur im Akutfall, zum Beispiel bei der Einlieferung ins Krankenhaus, sondern können durch Vernetzung und Forschung aus ihnen lernen. Wir brauchen sie zur bedarfsgerechten Steuerung von Patientinnen und Patienten. Dafür müssen wir Versorgungspfade analysieren und das funktioniert nur, wenn Forschung, Kostenträger aber eben auch Betroffene auf diese Daten zugreifen können.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ein Beispiel ist die Coronapandemie. Wir wussten zu Beginn der Pandemie fast nichts. Wir wussten nicht, wie viele Intensivbetten wir haben, wie viele Coronainfektionen wie und wo behandelt werden, es gab kein digitales Kontaktmanagement. Das hat in Ländern wie Israel, wo jeder Bürger und jede Bürgerin eine elektronische Patientenakte, eine ePA, hat, viel besser funktioniert. Hier konnte man Risikopatienten frühzeitig warnen und gezielt impfen, die Verträglichkeit der Impfung dokumentieren und allein daraus schon sehr viel lernen. Auch das Thema Post-Covid ist ein Musterfall: Wir versuchen momentan aufwendig Covid-Infizierte nachzuverfolgen, das könnte man mit einer funktionierenden ePA auf Knopfdruck. Wir könnten erkennen, welche Beschwerden bestehen bleiben, wie und ob diese behandelt werden müssen. Diese Fragen können wir in Deutschland nicht beantworten, weil bei uns Patienten-, aber auch Abrechnungs- und Registerdaten nicht zusammengeführt werden. Wir können froh sein, dass wir aus Daten anderer Länder lernen dürfen.
Wir haben in Deutschland 18 verschiedene Datenschutzbehörden mit unterschiedlichen, aus unserer Sicht zu rigiden, Spielregeln. Wir benötigen eine bundeseinheitliche Regelung für die sinnvolle Nutzung von Gesundheitsdaten. Diese Möglichkeit eröffnet uns übrigens explizit die europäische Datenschutz-Grundverordnung. Wir müssen dabei die Verhältnisse umkehren und ein Anrecht der Versicherten auf bestmögliche Nutzung vorhandener Gesundheitsdaten verankern. Das bundesdeutsche Verständnis von Datenschutz stammt aus den 1980er Jahren. Die Ausrichtung auf Datensparsamkeit und enge Zweckbindung ist in einer digital-vernetzten Welt nicht mehr zeitgemäß. Wenn wir künstliche Intelligenz nutzen wollen, um zu forschen, dann können wir nicht alle Eventualitäten einer Datenabfrage voraussehen und im Vorfeld die entsprechende Zustimmung zur Nutzung der Daten einholen. Ziel ist und muss immer das Patientenwohl sein. Wenn die Forschung dazu beitragen kann, dann sollte die Datennutzung nicht nur gestattet werden, sie ist vielmehr geboten. Sie muss dann aber auch flankiert werden von Mechanismen der technischen Datensicherheit, wie Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, einem guten Identitätsmanagement und trust by design. Letzteres bedeutet, dass ich nachvollziehen kann, wer wann auf welche Daten zugegriffen hat. Und wir brauchen härtere Strafen, wenn Daten missbraucht werden.
Hat die Coronapandemie die Akzeptanz in der Bevölkerung und Politik für Ihr Anliegen verändert?
Ohne Zweifel hat die Pandemie der Digitalisierung einen großen Schub gegeben. Beispiele sind die große Anzahl von Video-Sprechstunden, aber auch das DIVI-Register oder die Software SORMAS. Was wir für ein digitales Gesundheitssystem brauchen, sind die entsprechende Infrastruktur, gezielte Förderung und die Akzeptanz der Menschen. An allen drei Voraussetzungen mangelt es momentan aber noch. Insbesondere letzteres lässt sich nur lösen, indem der Nutzen erlebbar gemacht wird. Wir nutzen unser Smartphone ja auch nicht, weil wir es müssen, sondern weil wir es hilfreich finden. Genau dahin müssen wir auch bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens kommen.
Wir brauchen Ihr Einverständnis
Wir benutzen Drittanbieter um Inhalte einzubinden. Diese können persönliche Daten über Ihre Aktivitäten sammeln. Bitte beachten Sie die Details und geben Sie Ihre Einwilligung.
Privatsphäre-Einstellungen öffnen