Frau Prof. Spiecker, Sie haben analysiert, ob eine Online-Option bei den Sozialwahlen gegen die Verfassung verstößt. Mit welchem Ergebnis?
Einer Online-Wahlmöglichkeit bei der Sozialwahl steht verfassungsrechtlich nichts entgegen. Zur Diskussion steht allerdings die Frage der ‚Öffentlichkeit‘. Bei Wahlen muss diese ja die Möglichkeit haben, den ganzen Prozess zu überprüfen. Das ist bei Fernwahlen wie der Sozialwahl sicher schwieriger als bei Präsenzwahlen. Aber es gibt berechtigte – und vom Verfassungsgericht bestätigte – Gründe, hier abzuweichen: einerseits um mehr Bürgernähe zu erreichen, andererseits, um die Wahlbeteiligung zu steigern.
Ein häufig genanntes Argument gegen Online-Wahlen sind Datenschutzbedenken. Wie stehen Sie dazu?
Hinter Datenschutzbedenken verbergen sich meist zwei Sorgen: Dass identifizierbar wird, wer wie abgestimmt hat, oder dass jemand die Ergebnisse technisch manipulieren und für Dritte ohne deren Wissen abzustimmen könnte. Solche Bedenken sollte man grundsätzlich ernst nehmen und sich damit auseinandersetzen. Sie lassen sich aber ausräumen. Es gibt bereits zertifizierte und erprobte Software, die die notwendigen Standards erfüllt. Die wurde auch bereits erfolgreich bei Wahlgängen eingesetzt, zum Beispiel bei Wahlen an Hochschulen.
Jüngst geriet die Online-Abstimmung einer Partei in die Kritik – was bedeutet das für die Sozialwahl?
Die Kritikpunkte, die gegen die Online-Abstimmung einer Partei vorgebracht wurden, treffen auf die Online-Sozialwahl nicht zu. Die Partei hat eine in Deutschland nicht-zertifizierte Software verwendet. Und sie hat ein unglückliches Registrierungsverfahren gewählt. Bei einer Online-Sozialwahl sind der Vorlauf und das Zeitfenster, in dem abgestimmt werden kann, deutlich größer. So kann (und muss) man sie anders ausgestalten und für die gebotene IT-Sicherheit sorgen.
Welche gesellschaftlichen Impulse könnte eine Online-Sozialwahl geben?
Unsere Verwaltung ist an vielen Stellen schon digital – allerdings dringt das nicht zu den Bürgerinnen und Bürgern vor. Gleichzeitig sind immer mehr Menschen gewohnt, alles Mögliche digital zu erledigen. An den Wahlurnen ist das aber noch überhaupt nicht angekommen.
Unsere Verwaltung ist an vielen Stellen schon digital – allerdings dringt das nicht zu den Bürgerinnen und Bürgern vor.
Welche Rolle spielt dabei die Sozialwahl?
Die Sozialwahl ist nach der Bundestags- und Europawahl die drittgrößte Wahl des Landes. Daraus ergibt sich eine große Chance auf Mitsprache und Bürgerbeteiligung– und auf eine Annäherung zwischen Verwaltung und Bürgerinnen und Bürgern. Diese wichtige Mitsprachemöglichkeit lässt sich kaum über den Brief aufrechterhalten. Der Brief als Medium spielt im Alltag vieler Wahlberechtigter keine Rolle mehr.
Betrifft das vor allem die Jüngeren?
Nicht nur. Auch viele Ältere Menschen lassen sich auf die Digitalisierung ein. Zudem machen Online-Wahlen den Wahlgang deutlich bequemer und einfacher. Das ist ein großer Vorteil für mobilitätseingeschränkte Menschen, die sich dann den Weg zum Briefkasten sparen.
Können Sie persönlich sich vorstellen, online an der Sozialwahl teilzunehmen?
Unbedingt.
Biografie - Prof. Dr. Indra Spiecker genannt Döhmann
Prof. Dr. Indra Spiecker genannt Döhmann ist Professorin für Öffentliches Recht, Informationsrecht, Umweltrecht und Verwaltungswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Sie leitet dort u.a. die Forschungsstelle Datenschutz sowie Ineges, das Institut für Europäisches Gesundheitspolitik und Sozialrecht und forscht insbesondere zur rechtlichen Bewältigung der Digitalisierung.
Prof. Spiecker ist u.a. als erste Juristin in die Akademie der Technikwissenschaften aufgenommen worden und ist Mitglied der Sachverständigenkommission der Bundesregierung zur Erstellung des Dritten Gleichstellungsberichts.