Anne Wunsch

Interviewreihe: Wie soll die Apotheke der Zukunft aussehen?

Die Veränderungen im Gesundheitssystem nehmen stetig zu – die Digitalisierung ist dabei ein entscheidender Faktor. Welche Funktion sollen dabei die Apotheken künftig einnehmen? Welche Versorgungsangebote sollten sie entwickeln und umsetzen? Wir haben drei Experten gefragt. Heute: Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeske.

Innovative Versorgungsangebote sind ein zentrales Anliegen der TK. Drei Experten geben aus ihren Blickwickeln Antworten auf die Frage, wie sich Apotheken auf die derzeitigen und zukünftigen Herausforderungen vorbereiten können: Prof. Dr. Gerd Glaeske, Gesundheitswissenschaftler und Arzneimittelexperte an der Universität Bremen, Magdalene Linz, Ehrenkammerpräsidentin der Apothekerkammer Niedersachsen und Thomas Ballast, stellvertretender Vorsitzender des Vorstands der TK.

Herr Glaeske, was macht die Apotheke vor Ort aus Ihrer persönlichen Sicht aus und was sind ihre Stärken?

Im Rahmen einer zweckmäßigen und immer komplexer werdenden Arzneimittelversorgung sind Apotheken unverzichtbar. Die Apotheken vor Ort sind durch ihre „rund um die Uhr“-Erreichbarkeit sowie ihre niederschwelligen Kommunikations- und Beratungsangebote eine wichtige Anlaufstelle. Dies gilt sowohl für ihren speziellen Kompetenzbereich der Arzneimitteltherapie als auch für die Weitervermittlung in andere Versorgungsbereiche unseres Gesundheitssystems, wenn ärztliche Diagnostik oder pflegerische Maßnahmen erforderlich sind. Insofern übernehmen Vor-Ort-Apotheken im Rahmen ihrer geschätzt 3,6 Millionen Patienten- und Kundenkontakte pro Tag auch die Funktion eines Gesundheitsberatungszentrums. Die Nähe zur Region sowie die Kenntnisse der medizinischen Angebote und der persönlichen Situation vieler Kunden, die eine bestimmte Apotheke als „Stammapotheke“ ausgewählt haben, gehören zu den wesentlichen Stärken.

Prof. Gerd Glaeske, Gesundheitswissenschaftler und Arzneimittelexperte an der Universität Bremen. Foto: Raphael Hünerfauth, Photothek

Wo sehen Sie einen Veränderungsbedarf für die Apotheke vor Ort?

Apotheker müssen es schaffen, ihre gute Ausbildung – vor allem seit der verpflichtenden Lehre in Clinical Pharmacy – unter Beweis zu stellen. Derzeit wird die Apotheke allerdings von vielen Menschen eher als Arzneimittelabgabestelle denn als Top-Adresse für pharmazeutische Kompetenz gesehen. In vielen innovativen Versorgungsmodellen hat die Apotheke vor Ort kaum eine Rolle gespielt. Dabei wären gemeinsame Versorgungskonzepte mit niedergelassenen Ärzten eine gute Vorbereitung für selektive Verträge nach § 140a SGB V gewesen. So hat sich immer wieder der Eindruck verstärkt, dass die Apotheke vor Ort zu stark auf die Verteidigung bestehender Strukturen konzentriert war. Dies lag aber ganz sicher auch daran, dass eine Differenzierung der Apotheken nach Qualifikation und Strukturvorteilen von der Standesführung nicht unterstützt wurde. Dass dieser Weg in eine Sackgasse geführt hat, ist unübersehbar. Noch immer empfinden viele Apotheken die Krankenkassen als Gegner oder als Belastung in ihrem Berufsalltag, während die pharmazeutische Industrie mit ihren zum Teil unsäglichen Angeboten in der Selbstmedikation noch immer als Unterstützer gilt. Diese Einschätzung verstellt aber den Blick auf die Realität: Die Krankenkassen bilden auch das finanzielle Fundament der Arzneimittelversorgung und damit auch der Apotheken, die pharmazeutische Industrie nutzt die Seriosität der Apotheke für ihren Absatz und Umsatz.

Krankenkassen und Apotheker sollten sich im Arzneimittelbereich an die Spitze der Bewegung setzen. Sie haben nämlich die Kompetenz, und nicht die Informatiker, die allzu oft die Inhalte und Verknüpfungsmöglichkeiten vorgeben möchten.

Wie haben sich die Rahmenbedingungen für Apotheken – insbesondere mit Blick auf den digitalen Wandel und die Corona-Pandemie – in der letzten Zeit verändert?

Es gibt kaum einen Berufszweig in unserem Gesundheitssystem, der bereits so lange positive Erfahrungen mit der Digitalisierung gemacht hat wie die Apotheker. Insofern ist es erstaunlich, dass erst jetzt die Diskussionen über digitale Konzepte, in die auch Patientinnen und Patienten eingebunden sind, die Apotheke erreicht haben. Es gab sicherlich eine Reihe von nachvollziehbaren Bedenken, wenn es um das elektronische Rezept, den elektronischen Medikationsplan oder die elektronische Patientenakte ging. Und nach wie vor ist keineswegs alles zufriedenstellend geregelt. Dennoch wird die Digitalisierung im Gesundheitswesen nicht aufzuhalten sein, das zeigt die Corona-Pandemie deutlich. Krankenkassen und Apotheker sollten sich im Arzneimittelbereich an die Spitze der Bewegung setzen, sie haben nämlich die Kompetenz, und nicht die Informatiker, die allzu oft die Inhalte und Verknüpfungsmöglichkeiten vorgeben möchten.

Nun ein Blick nach vorne: Wie sieht Ihr Konzept der Apotheke der Zukunft aus?

Die Patientenorientierung muss der erkennbare Schwerpunkt in der Apotheke sein. Die verständliche Erklärung der Arzneimitteltherapie, die obligatorische Prüfung auf Interaktionen, die Beratung bei der Einnahme zusätzlich gekaufter OTC-Produkte oder die Förderung der Adhärenz sind Aufgaben, die nur in der Apotheke, und vor allem in der Apotheke vor Ort, geleistet werden können. Die derzeitigen Studieninhalte müssen daher in Bezug auf die zukünftigen Anforderungen an die Apotheke angepasst werden. Auf einer solchen Basis können und müssen sich die Aufgaben der Apotheke in der Zukunft weiterentwickeln, honorierte Dienstleistungen könnten in diesem Zusammenhang beispielsweise ein medicines use review (MUR) oder die Einbindung in Impfprogramme sein. Zusammengefasst: Es muss einen „Aktivitätsruck“ bei den Apotheken geben.

Was ist nötig, um dieses Ziel zu erreichen?

Wie schon angedeutet muss dafür die Blickrichtung grundsätzlich verändert werden – weg vom Objekt Arzneimittel hin zum Subjekt der „Arzneimittelanwender“. Hier spielt der Apotheker eine zentrale Rolle – Kooperation, Kommunikation und Kompetenz sind Schlüsselbegriffe für die Zukunft in Apotheken. Dazu kommt die Aufgeschlossenheit gegenüber der Digitalisierung. Außerdem ist auch ein struktureller Wandel der Apotheken unerlässlich. Es müssen Differenzierungen zugelassen werden, wie sie in allen anderen Bereichen des Gesundheitssystems üblich sind. Allerdings: Der Apothekerstand muss sich bewegen – die Zukunft verlangt nach differenzierten vertraglichen Möglichkeiten, eine Regelung, an der sich alle Apotheken gleichermaßen und voraussetzungslos beteiligen können, würde die notwendige Ernsthaftigkeit der Umsetzung einer solchen Zukunftsstrategie in Zweifel ziehen.



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