Jessica Kneißler

Präsentismus: „Lob ist das falsche Signal“

Mehr als jeder vierte Beschäftigte geht häufig oder sehr häufig krank zur Arbeit. Das zeigt unsere Studie „Präsentismus in einer zunehmend mobilen Arbeitswelt“. Maren Beer vom Institut für betriebliche Gesundheitsberatung erläutert im Interview die Hintergründe – und was dagegen zu tun ist.

Frau Beer, warum gehen Beschäftigte krank zur Arbeit?

Wir haben herausgefunden, dass fehlende Vertretungen eine sehr große Rolle spielen. Außerdem hatte die Corona-Pandemie interessanterweise eher den Einfluss, dass man bei negativem Testergebnis mit vermeintlich weniger ansteckenden Erkrankungen trotzdem arbeitete, nach dem Motto „es ist ja kein Corona“. Viele gaben an, dass sie Kolleginnen und Kollegen nicht zur Last fallen möchten – oder es gab dringende Termine, die man wahrnehmen wollte. In vielen Fällen wird auch die eigene Motivation als Grund angegeben: Wer zufrieden ist mit seinem Arbeitsplatz, fühlt sich dem Arbeitgeber und seinem Team verbunden und arbeitet aus Pflichtgefühl auch krank – das haben wir als einen der Hauptfaktoren ausgemacht.

Maren Beer vom Institut für betriebliche Gesundheitsberatung

Was schlussfolgern Sie daraus?

Sensibilisierung ist das Stichwort: Viele haben von dem Phänomen „Präsentismus“ noch nie gehört oder sich nie damit auseinandergesetzt. Mehr als zwei Drittel der Beschäftigten (62,5 Prozent) wurden von ihrer Führungskraft noch nie auf das Thema angesprochen. Wir sehen hier eine klare Verantwortung beim Arbeitgeber und den Führungskräften. Letztlich gilt es, ein Gesundheitsbewusstsein im Betrieb zu schaffen und die Mitarbeitenden auch vor sich selbst zu schützen. Das ist auch im eigenen Interesse der Unternehmen – denn nur so bleiben die Mitarbeitenden auch auf lange Sicht gesund, leistungsfähig und motiviert.

Welche konkreten Schritte empfehlen Sie, um den sogenannten Präsentismus einzudämmen?

Es sollten alle, einschließlich der Führungskräfte, für mögliche Folgen sensibilisiert werden: eingeschränkte Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz, höhere Unfallwahrscheinlichkeit, Krankheiten werden verschleppt, Kolleginnen und Kollegen angesteckt. Für den Krankheitsfall müssen klare Regeln geschaffen werden – das gilt auch für das Homeoffice: Wer krank ist, sollte sich krankschreiben lassen und auch nicht weiterhin „ein bisschen“ verfügbar sein. Es braucht eine gute und gesundheitsbewusste Teamkultur. Und: verbindliche Vertretungsregeln.

Apropos Homeoffice: Welchen Einfluss hat dieser Trend der neuen Arbeitswelt auf die Situation?

Wir beobachten, dass Beschäftigte im Homeoffice noch stärker dazu neigen, auch krank zu arbeiten. Man kann ja schließlich auch auf der Couch noch schnell ein paar Emails checken. Hinzu kommt, dass sie sich stärker in der Eigenverantwortung fühlen – man wird auf Distanz geführt, ist auf Distanz Teil des Teams. Da ist wohl auch der Drang stärker, sichtbar sein zu müssen. Gleichzeitig ist die Hemmschwelle niedriger, wenn man sich nicht fit fühlt, trotzdem den Laptop aufzuklappen – man muss sich ja nicht mehr unbedingt auf den Weg zur Arbeit machen. Deshalb müssen gerade auch für das Homeoffice klare Strukturen und Regeln gelten, um diesen Effekt zu verhindern.

Es sollten alle, einschließlich der Führungskräfte, für mögliche Folgen sensibilisiert werden: eingeschränkte Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz, höhere Unfallwahrscheinlichkeit, Krankheiten werden verschleppt, Kolleginnen und Kollegen angesteckt.

Welche Gruppen und Branchen sind davon besonders stark betroffen?

Es sind wenig überraschend vor allem jene, die sich auch sonst mehr beweisen müssen: Wir sehen da einen deutlichen Unterschied sowohl bei den Geschlechtern als auch bei den Altersgruppen; besonders häufig sind Frauen und jüngere Beschäftigte betroffen. Hinzu kommen die befristet Beschäftigten, Mitarbeitende in kleineren Unternehmen und Beschäftigte, die neu im Unternehmen sind. Zudem waren gerade auch in Pandemie-Zeiten beispielsweise jene in sogenannten systemrelevanten Berufen trotz Krankschreibung im Einsatz: Menschen in der Dienstleistung zum Beispiel. Übrigens spielt auch eine Rolle, dass so mancher seine eingeschränkte Leistungsfähigkeit nicht zugeben möchte. Das haben wir in Gesundheits- und Sozialberufen besonders häufig. Zudem haben wir gesehen, dass sich Präsentismus bei emotionaler Erschöpfung und psychischen Problemen viel stärker zeigt: Rein physische Einschränkungen sind nach wie vor weniger stigmatisiert.

Was können und sollten Arbeitgeber und Führungskräfte tun, um die Situation zu verbessern?

Generell muss sollte man als Erstes über das Thema sprechen. Mitarbeitende, die krank zur Arbeit kommen oder sichtbar angeschlagen in der Videokonferenz sitzen, sollten nicht dafür gelobt werden – zu sagen „toll, dass du dich trotzdem aufgerafft hast“ ist das falsche Signal. Stattdessen sollte man ein Zeichen in die andere Richtung setzen und die Kollegin oder den Kollegen bitten, sich krank zu melden, auszukurieren und erst vollständig genesen wiederzukommen. Und psychische Belastungen müssen genauso ernst genommen werden wie andere Erkrankungen.

Weitere Details

Der Studienband „Präsentismus in einer zunehmend mobilen Arbeitswelt“ entstand im Auftrag der TK in Kooperation mit dem Institut für betriebliche Gesundheitsberatung (IFBG) und dem aQua – Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen. Das IFBG hat dafür im Mai 2022 1.233 Beschäftigte zu ihrem Verhalten bei Krankheit befragt. Die Befragung erfolgte über einen Online-Access-Panel. Zwei Drittel der Befragten arbeiten mindestens einen Tag in der Woche im Homeoffice, ein Drittel arbeitet nie im Homeoffice. Den Studienband gibt es auf dem Presseportal der TK.



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