Yvonne Wagner

Verbündete im Pflegeheim

Unsere Autorin Yvonne Wagner war bei einer Bewegungsstunde für Seniorinnen und Senioren in einem Frankfurter Pflegeheim dabei. Das Bewegungsprogramm fördert die TK im Rahmen der Prävention. Was unsere Autorin bei dem Termin erlebte, hat sie tief berührt. Hier erklärt sie warum.

Denk ich an Sport – fühl ich Freude, Glück und Freiheit. Bewegung bereichert mein Leben und lässt mich zuversichtlich bleiben. Laufen, Springen, Klettern, Tanzen, Balancieren, in einem Team spielen oder einfach nur Bälle werfen, all das schenkt mir Momente, in denen ich Belastendes vergessen kann. Meine Gedanken fließen davon, kommen neu sortiert zurück und mein Geist sprudelt vor frischen Ideen. Ich weiß, dass viele Menschen diese Lust an der Aktivität und das damit verbundene Freiheitsgefühl nicht teilen. Ich verstehe das. Sport oder nur ein Mehr an Bewegung sind oft anstrengend – auch ich muss mich manchmal überwinden, bevor ich die körperliche Aktivität und ihre Effekte genießen kann.  

Ein Besuch der besonderen Art 

Jetzt sitze ich hier im Pflegeheim und erfahre, was es den Bewohnerinnen und Bewohnern bedeutet, sich in ihrem Sportkurs zu betätigen. Die acht Teilnehmenden sind zwischen 78 und 98 Jahre alt. Einige sitzen im Rollstuhl, andere bewegen sich agil, wieder andere beteiligen sich nur mit kleinen Bewegungen an den Gymnastikübungen oder haben mitunter auch mal Mühe, die Aufforderung der Trainerin zu verstehen. Irgendwie und irgendwann strecken und spannen sie dann aber doch alle ihre Muskeln und regen ihre Gelenke: Hier die Arme gestreckt, dort den Fuß gehoben, Bewegungen koordiniert – dezent oder lebhaft – der eine sitzend, die andere stehend hinter dem Stuhl. Gemeinsam und doch jeder für sich. Genauso wie es individuell möglich ist. Prima, denke ich. Schön, wie hier alle konzentriert und vergnügt bei der Sache sind, ich freue mich einfach nur. Den Kurs selbst sehe ich noch sehr nüchtern. Ich habe ein Sportstudium absolviert und ordne die Übungen ein: Isometrie, Koordination, Mobilisation, Dehnung – mit Expertise angeleitet und mit angemessenem Leistungsanspruch.  

Bewegung als Lebenselixier

Was mich dann zutiefst berührt, ist, was die Menschen danach über die Wirkung des Kurses schildern: Der 87-jährige Peter erzählt, wie er wieder seine körperlichen Grenzen spüre, was der Freude aber keinen Abbruch tue, denn zugleich könne er seinen Körper wieder besser kontrollieren. „Ja!“, sagt Heike. Sie ist 80 Jahre und spricht über die wachsende Standfestigkeit, wie die Sicherheit zunehme und sie weniger Angst habe hinzufallen. „Da ist es auch leichter, dem Pflegepersonal im Speisesaal zu helfen und mittags die anderen Bewohner beim Essen zu unterstützen.“ Das Gemeinschaftsgefühl nehme spürbar zu, sagt sie. Das Selbstbewusstsein wachse. Überhaupt, man sei auch viel gelassener und geduldiger im Umgang mit den anderen. Zustimmung im Kreis der Teilnehmenden. 

Plötzlich sagt der 92 Jahre alte Karl laut: „Anfang des Jahres war ich noch bettlägerig!“ Er ist taub, deshalb lässt er sich aufschreiben, worüber wir hier gerade reden. Zu sagen hat er viel: Wie sportlich er schon früher war und wie er sich nun im Alter mithilfe des Physiotherapeuten und den Kursangeboten wieder aufgebaut hat. Karl belegt seine Worte eindrucksvoll: Er steht aus dem Rollstuhl auf, stellt sich dahinter, nutzt ihn als Rollator und dreht sich mit seinem Gefährt in aller Ruhe um, bevor er – den Rollstuhl vor sich herschiebend – mit gezielten Schritten den Raum verlässt.  

Mit teilweise minimalen Bewegungen, schaffen es diese Menschen Aggressionspotenziale abzubauen, Zufriedenheit zu erlangen, Selbstwirksamkeit zu stärken! Man stelle sich vor: Wir sprechen hier nicht über einen ausgiebigen Waldlauf, bei dem man sich mal so richtig auspowern kann oder ein schweißtreibendes Tennismatch. Nein. Es geht um einen scheinbar geringen Grad an Auslastung, der aber - individuell betrachtet - für Seniorinnen und Senioren sehr ausfüllend ist.

Tief beeindruckt

All das hat mich aufgewühlt. Kann es wirklich sein, dass ein solches zusätzliches Bewegungsangebot so viel Zufriedenheit schafft? Dass es mit der Mobilität in hohem Alter noch so bergauf gehen kann? Dass Menschen im Pflegeheim dadurch gelassener auftreten? Dass sie geduldiger mit anderen umgehen und dadurch eine friedvollere Atmosphäre entsteht? Es ist offensichtlich, dass körperliche Aktivität Haltung verändert – in Körper und Geist. Und dass sich auch bislang festgelegte Rollen einer Person in einer Gruppe verändern können.  

Mich macht das sprachlos und glücklich: Mit teilweise minimalen Bewegungen, schaffen es diese Menschen Aggressionspotenziale abzubauen, Zufriedenheit zu erlangen, Selbstwirksamkeit zu stärken! Man stelle sich vor: Wir sprechen hier nicht über einen ausgiebigen Waldlauf, bei dem man sich mal so richtig auspowern kann oder ein schweißtreibendes Tennismatch. Nein. Es geht um einen scheinbar geringen Grad an Auslastung, der aber – individuell betrachtet – für Seniorinnen und Senioren sehr ausfüllend ist.  

Diese Erkenntnis berührt mich zutiefst. In meinem Bauch kribbelt es unfassbar schön – auch jetzt, wenn ich diese Zeilen aufschreibe. Denn ich spüre: Alles, was ich erlebe und durch Bewegung als bereichernd erfahre, ist nicht nur meins. Ich habe Verbündete. Und: Ich habe heute besonders intensiv erlebt, dass alles Gute, was ich je über richtig angeleiteten Sport und individuell angemessene körperliche Aktivität gelernt, gesehen und gespürt habe, Realität ist. Ein Leben lang.  

Weitere Informationen

Hier finden Sie nachfolgend weitere Informationen zum Bewegungsprojekt Procare – Prävention in der stationären Pflege sowie den Förderantrag zu Präventions- und Gesundheitsförderung in der Pflege.  



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