Anne Kraemer

Arztzugang neu denken: Wie Koordination die Gesundheitsversorgung für alle verbessert

Schwierige Terminsituation trotz steigender Arztzahlen: Die Schwächen der ambulanten Versorgung sind schon lange bekannt. Im Interview erklärt Daniel Cardinal, wie ein Primärversorgungssystem mit mehr Koordination die Lage verbessern kann.

58 Prozent der Menschen in Deutschland empfinden die Wartezeit für einen Facharzttermin als ‘viel zu lang’. Das zeigt eine aktuelle Forsa-Befragung im Auftrag der TK. Mehr Koordination der Patientinnen und Patienten kann die Versorgung verbessern und so auch für schnellere Termine sorgen. Daniel Cardinal ist Geschäftsbereichsleiter für Innovation und ambulante Versorgung bei der TK und erklärt im Interview, warum das ambulante System reformiert werden sollte und wie ein Primärversorgungssystem aussehen sollte.

Daniel Cardinal leitet bei der TK den Geschäftsbereich Innovation und ambulante Versorgung

Woran hakt es im ambulanten System und wie hängt das mit den Terminproblemen zusammen?

Es fehlt an klaren Wegen in und durch die Versorgung. Außerdem ist das ambulante System mit seinen veralteten Strukturen und finanziellen Anreizen nicht ausreichend daran orientiert, worum es eigentlich gehen sollte: den medizinischen Bedarf der Patientinnen und Patienten. Wer ein gesundheitliches Anliegen hat, steht oft vor komplexen Entscheidungen: Sind die Kopfschmerzen ein Fall für den Hausarzt, Neurologen oder Orthopäden? Mit solchen Fragen werden Hilfesuchende aktuell weitestgehend allein gelassen. Das führt zu häufigen Arztbesuchen, langen Wartezeiten oder unnötigen Doppeluntersuchungen. Es ist viel zu oft eine Frage des Zufalls, wer, wann und wo behandelt wird. Das muss sich dringend ändern.

Was ist ein Primärversorgungssystem?

Ein Primärversorgungssystem bietet eine erste Anlaufstelle für Patientinnen und Patienten bei gesundheitlichen Problemen. Dort erfolgen die grundlegende Versorgung und die Koordination weiterer ambulanter oder stationärer Behandlungen.

Die Regierung möchte ein Primärversorgungssystem einführen. Das bedeutet, dass Patientinnen und Patienten immer erst eine Hausarztpraxis aufsuchen müssen, die sie bei Bedarf zum Facharzt überweist. Ist das die Lösung für die Probleme in der ambulanten Versorgung?

Der Kerngedanke eines Primärversorgungssystems, nämlich mehr Struktur und Koordination in die ambulante Versorgung zu bringen, ist gut. Aber wir dürfen dabei nicht nur auf die Wege innerhalb der Versorgung, also von einer Arztpraxis zur nächsten, schauen. Eine kluge und bessere Koordination beginnt bereits dann, wenn Menschen wegen eines gesundheitlichen Anliegens nach Hilfe suchen. Von diesem Moment an muss es klar definierte Wege und Anlaufstellen geben. Deshalb braucht es aus unserer Sicht eine medizinische Ersteinschätzung des Behandlungsbedarfs – noch bevor überhaupt ein Arzttermin vereinbart wird.

Wie soll so eine medizinische Ersteinschätzung funktionieren?

Ziel ist, dass die Ersteinschätzung die gesundheitlichen Probleme der Hilfesuchenden schnell einordnet und ihnen die nötige Orientierung im System bietet. Man kann sich das wie eine Art Fragebogen vorstellen, der Symptome erfasst und einordnet. Natürlich muss eine solche Ersteinschätzung auf aktuellen medizinischen Leitlinien basieren und von Ärztinnen und Ärzten entwickelt werden. Idealerweise erfolgt sie digital, zum Beispiel über eine App, und bezieht Informationen aus der elektronischen Patientenakte (ePA) mit ein. Sie muss jedoch auch an allen relevanten Zugangspunkten ins System verfügbar sein, per Telefon über die Hotline 116 117 der Kassenärztlichen Vereinigungen, vor Ort am Praxistresen oder in der Notaufnahme.

Die Ersteinschätzung empfiehlt dann den weiteren Behandlungspfad – ganz orientiert daran, was am besten für die Gesundheit ist. Je nachdem kann das für die Hilfesuchenden heißen, erstmal weiter abzuwarten, einen Arzttermin zu buchen, eine Videosprechstunde zu besuchen, sich von medizinischen Fachkräften beraten zu lassen oder die Notaufnahme aufzusuchen. Wichtig ist, dass es eine zentrale, digitale Terminplattform gibt, um zeitnahe Termine in die passende Versorgungsebene zu vermitteln.

Und wer ärztliche Betreuung braucht, soll dann immer zuerst zum Hausarzt gehen?

Wer Primärversorgung sagt, verbindet damit oft die hausärztliche Versorgung. Doch genau dort klagen viele Ärztinnen und Ärzte bereits heute über eine hohe Arbeitslast. Wenn jeder Zugang in die Versorgung über eine Hausarztpraxis führen würde, könnte dies zu neuen Engpässen führen. Und wer in einer Facharztpraxis eigentlich besser versorgt wäre, hätte so mehr Aufwand und längere Wartezeiten.

Wir fordern deshalb, dass Patientinnen und Patienten direkt dorthin geleitet werden, wo sie am besten versorgt sind – und das variiert nun mal nach Krankheitsbild. Wer zum Beispiel umgeknickt ist, sollte, ohne vorher eine Hausarztpraxis aufsuchen zu müssen, direkt von einer orthopädischen Praxis versorgt werden. Für diesen Fall gilt die orthopädische Praxis als ‘Primärversorger’ und koordiniert alle nötigen weiteren Behandlungsschritte. Bei einem neuen Anliegen ist dann eine neue Ersteinschätzung nötig, die die dafür passende Versorgungsebene empfiehlt. Die Primärversorgung sollte immer bei der ärztlichen Fachrichtung liegen, die sich mit dem jeweiligen Krankheitsbild am besten auskennt. Das wird in den meisten Fällen vermutlich eine Hausarzt-, kann aber auch mal eine Facharztpraxis sein.

Klar ist aber auch: Ein Primärversorgungssystem kann seinen Nutzen erst dann entfalten, wenn auch das Vergütungssystem entsprechend angepasst wird.

Und wie sollte die ärztliche Vergütung zukünftig gestaltet sein?

Wir brauchen Regelungen, die den Fokus auf die Zeit für die Behandlung der Patientinnen und Patienten legen und weniger Anreize für Über- und Fehlversorgung schaffen. Das ist aktuell nicht der Fall und auch einer der Faktoren, der zu den Terminschwierigkeiten beiträgt. Deshalb schlagen wir eine zweigeteilte Vergütung vor, nach der Fixkosten von Praxen durch zielgerichtete Pauschalen finanziert werden sowie ein zeitbasiertes Vergütungssystem für die ärztlichen Leistungen eingeführt wird.

Eine neue, faire Vergütung ist ein wichtiger Bestandteil eines Primärversorgungssystems. Zusammen mit klaren Wegen und Anlaufstellen kann dadurch die Versorgung der Patientinnen und Patienten qualitativ besser, die Arztpraxen entlastet und das ambulante System insgesamt effizienter werden.

Digital vor ambulant vor stationär: Primärversorgung für mehr Effizienz

Der Weg durch die Versorgung hängt heute zu oft von historisch gewachsenen Strukturen oder gar Zufällen ab. Die TK fordert daher ein Primärversorgungssystem mit medizinischer Ersteinschätzung und einer Terminplattform für zielgerichtetere Wege in das System hinein. Die Primärversorgung und die Koordination der Patientinnen und Patienten innerhalb des Systems sollte je nach Krankheitsbild übernommen werden. Die Vorschläge der TK gibt es hier.



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