Was ich schon alles Tolles und Dolles über „meine“ Generation, über die Millennials, geboren zwischen 1980 und 1999, gelesen habe, lässt sich kaum unter einen Hut bringen: Wir seien zu faul, zu anspruchsvoll, wollen zu viel, tun zu wenig. Eine gute Work-Life-Balance ist Pflicht für uns, Digital Natives sind wir sowieso, flexibel ebenfalls. Kein Wunder also, dass wir überproportional oft einen Therapeuten oder eine Therapeutin aufsuchen – bei den vielen Labels ist die Identitätskrise nicht weit.
DIE ZEIT hat uns dieses Jahr ein weiteres Label geschenkt: neue Visionäre. Anlässlich des 20. Jubiläums des Blattes veranstaltete ZEIT ONLINE am vergangenen Wochenende das Z2X-Festival der neuen Visionäre und lud dazu über 500 „Twentysomething“ – also 20 bis 29-Jährige – ins Radialsystem V nach Berlin ein. Die TK war als Partner dabei, um die Millennials und ihre Visionen für ein smartes und innovatives Gesundheitssystem besser kennenzulernen. Ich hatte als 25-Jährige die Ehre, ebenfalls teilzunehmen und für die TK zu twittern (denn hey, Social Media? Kann ich!).
Uns erwartete ein volles Programm. Nach der Begrüßung von Jochen Wegner, Chefredakteur von ZEIT ONLINE, ging es nahtlos zu den ersten Blitzvorträgen über. Innerhalb von fünf Minuten mussten die Redner*innen ihre Ideen vorstellen – überzogen sie die Redezeit, wurden sie in typischer Preisverleihungs-Manier von lauter Musik abgeschnitten. Schon bei den Blitzvorträgen fiel auf: die Interessen waren vielfältig. Nanne von Hahn, Leiterin des Bereichs Talent, Development und HR Strategy bei dem Mobilfunkanbieter Telefónica, sprach über den Weg von einem analogen in ein digitales Leben, Anna Moll stellte uns die „Selber-Geil-Schranke“ vor, die Autorin des kontrovers diskutierten Bestesellers „Regretting Motherhood“ Orna Donath erläuterte uns eine andere Seite des Elterndaseins und Johanna Uekermann, Bundesvorsitzende der Jusos, fragte sich, was passieren würde, wenn alle nur so viel arbeiten, wie sie auch wirklich wollen.
Wer die Wahl hat, hat die Qual
Im Anschluss folgte der erste zweistündige Workshop-Block. Über ein Dutzend Workshops beschäftigten sich mit den unterschiedlichsten Fragen und Themen unserer Gegenwart: wie sieht der Arbeitsplatz der Zukunft aus? Was ist die Sprache der neuen Rechten? Wie können wir Kinderbetreuung neu denken? Wir bauen einen Datenhandschuh. Wir organisieren echtes Recycling. Na toll, dachte ich – wer die Wahl hat, hat die Qual. Ich entschied mich, mir den Workshop von Niklas Kossow anzuschauen: Wie kann ich mit Apps die Gesellschaft verändern? Die Antwort: nicht so leicht und nicht so schnell, aber auch nicht unmöglich. Was mich überraschte (eines von vielen Dingen an diesem Wochenende), war das Interesse an Themen, die auch für eine Krankenversicherung wie die TK von Bedeutung sind. So landete ich in einer Gruppe, die sich mit der Unterversorgung in Krankenhäusern beschäftigte.
Wir haben uns also gefragt, wie wir für dieses Problem mit einer digitalen Lösung Abhilfe schaffen könnten. Ein Krankenpfleger aus unserer Gruppe erklärte uns, dass er 30 bis 40 Prozent seiner Zeit mit analoger Dokumentation beschäftigt sei. Wir einigten uns am Ende auf ein Tablet, das alle wichtigen Daten der Patienten beinhalten, Bürokratie reduzieren und dadurch mehr Zeit für die Patienten ermöglichen könnte. Sprich: eine elektronische Patientenakte. Ich war überrascht – denn ich hatte nicht damit gerechnet, dass mir dieses Wort am Wochenende begegnen würde.
Gläserne Patienten in Aktion
Überrascht war ich auch nach dem Workshop der TK, der am Samstagnachmittag stattfand. Thomas Heilmann aus dem Versorgungsmanagement bei der TK wollte unter dem Workshop-Titel „App jetzt gesund?“ wissen, wie die neuen Visionäre zu digitaler Gesundheit, zu Wearables wie z.B. Fitnesstrackern sowie der Nutzung und Bereitstellung ihrer Gesundheitsdaten stehen. Ihre Forderungen konnten die Teilnehmer*innen an zwei lebensgroße große Figuren aus Plexiglas kleben – zwei gläserne Patienten. Rund 20 Millennials diskutierten zwei Stunden über die Vor- und Nachteile unseres Solidarsystems, Bonus-Malus-Programme, Datensicherheit und ihre eigenen Erfahrungen. Die Meinungen gingen dabei zum Teil weit auseinander, was der Diskussion viel Leben einhauchte.
Ich war überrascht, wie viel die Teilnehmer*innen über die Abläufe des Gesundheitssystems wussten, denn demografisch gesehen müssen sich Jüngere ja seltener mit Krankheiten, Arbeitsunfähigkeiten oder generell mit ihrer Krankenversicherung auseinandersetzen. Am Ende des Workshops herrschte in der Gruppe ein Konsens: Die Gesundheitsdaten gehören dem Patienten und sollen von ihm verwaltet werden. Nur wenn ein hoher Datenschutz, von welcher Institution auch immer, gewährleistet ist, waren die meisten aus der Gruppe auch bereit, ihre Daten weiterzugeben.
Von Selbstwahrnehmung und Selbsthilfe
Der Sonntag begann mit weiteren Blitzvorträgen. Journalistin Christiane Link, referierte über die gesellschaftliche Haltung gegenüber Menschen mit einer Behinderung und warum diese geändert werden muss; René Kieselhorst berichtete von seiner Teilnahme an der Weltklimakonferenz und Sascha Kodytek proklamierte, dass Hass und Widerstand als Motivation für politische Arbeit dienen sollten.
Der letzte Workshop, an dem ich teilnahm, wurde von der Psychologin Mareike Ernst geleitet und beschäftigte sich mit der Frage, wie das Internet unsere Wahrnehmung und unser Verhalten prägt. Auch hier ging es wieder um Themen, die für eine Krankenkasse von Interesse sind: Meine Gruppe diskutierte, wie Menschen mit psychischen Krankheiten von digitalen Angeboten profitieren könnten. Zum Schluss waren sich alle einig, dass das Internet niemals einen Arztbesuch ersetzen kann, dass es aber Chancen bietet: Hilfe und Unterstützung in Foren, Austausch, neue Kontakte oder einfach Ablenkung.
And the winner is….
Zum Abschied wurden die besten Ideen aus den Workshops von ZEIT ONLINE oder ze.tt Paten auf der Bühne vor allen 500+ neuen Visionären vorgestellt. Mit jeweils drei Tischtennisbällen, die wir in entsprechende Eimer platzierten, stimmten wir über die drei Besten ab. Die Gewinner: das Projekt „Jugend Rettet“, das Flüchtlinge aus dem Mittelmeer rettet; eine Idee für eine kostenlose Interrail-Fahrkarte durch Europa, die das Reisen durch den Kontinent erleichtern und durch die Erfahrungen in den Ländern Vorurteile abbauen soll, und eine Politikplattform für Desinteressierte, die Raum für Austausch bietet und Demokratie fördern soll.
Apropos Austausch: Gut, konkrete Lösungen haben wir in den Workshops nicht erarbeitet. Dafür stand der Ideenaustausch an erster Stelle und das ist ja schließlich der erste Schritt für neue Visionen: Du musst sie teilen.