Dr. Jens Baas

Sondierungsgespräche: Den Stillstand in der Gesundheitspolitik beenden

Die politische Hängepartie seit den Wahlen im September ist auch im Gesundheitswesen zu spüren. Mit der „Bürgerversicherung“ und der Pflege sind im Vorfeld der Sondierungen immerhin zwei gesundheitspolitische Themen in den öffentlichen Fokus gerückt. Was auf der Agenda weiterhin fehlt, ist eine kluge Reform des Finanzausgleichs zwischen den Kassen, die einen fairen Wettbewerb ermöglicht. Und: Mehr Tempo bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen!

Einheitlicher Versicherungsmarkt – was zählt ist das „Wie“

Die Wiederaufnahme der Gespräche zwischen Union und SPD hat auch die „Bürgerversicherung“ erneut auf die Agenda gebracht. Diskutiert werden derzeit unterschiedliche Modelle. Die Emotionen kochen dabei hoch – und reichen je nach Interessenslage von Verteufelung bis hin zu Lobeshymnen.

Ganz sachlich betrachtet ist der Übergang in einen einheitlichen Versicherungsmarkt mit gleichen Spielregeln nur eine Frage der Zeit. Deshalb begrüßen wir diese Debatte grundsätzlich. Entscheidend ist allerdings das „Wie“. Eine künftige Regierung hat die Chance, den Systemwechsel erfolgreich zu gestalten, ohne dass die Solidargemeinschaft der gesetzlich Versicherten dabei die Probleme der privaten löst. Solange beide Systeme parallel existieren, ist dieses Risiko allerdings sehr hoch.

Alle Optionen, die derzeit im Zusammenhang mit einer Bürgerversicherung diskutiert werden, gehen von einer Übergangsphase aus. In dieser sollen GKV (gesetzliche Krankenversicherung) und PKV (private Krankenversicherung) weiter nebeneinander bestehen bleiben. Wenn PKV-Bestandskunden freiwillig wechseln können, müssen wir aber damit rechnen, dass zuallererst diejenigen in die GKV kommen, die im Alter ihre gestiegenen Versicherungsprämien nicht mehr bezahlen können oder hohe Risikozuschläge leisten müssen, weil sie krank sind. Eine lange Konvergenzphase darf es deshalb nicht geben.

Lesen Sie mehr zu den Chancen und Risiken der Bürgerversicherung für Deutschland in meinem Interview mit der dpa.

Pflege – warum wir einen Masterplan brauchen

Rasches Handeln erfordert hingegen das Thema Pflege: Angesichts des demografischen Wandels ist klar, dass die Zahl der Pflegebedürftigen in Zukunft steigt. Doch schon heute fehlen die Fachkräfte, sowohl in der Alten- als auch in der Krankenpflege. Für viele gut Ausgebildete ist es nicht ansprechend, diese verantwortungsvollen Berufe langfristig in Vollzeit auszuüben oder nach einer Auszeit zurückzukommen.

Höhere Löhne tragen zwar dazu bei, den Verbleib oder Wiedereinstieg in diese Berufe attraktiver zu machen, reichen aber längst nicht aus. Nötig sind berufliche Entwicklungsperspektiven und familienkonforme Angebote. Hier ist die Politik gefragt – ebenso wie Kommunen, Tarifpartner, wir Kassen und andere Kostenträger.

Auch die pflegenden Angehörigen, die in Deutschland den Großteil der Pflegebedürftigen versorgen, darf die Politik nicht übersehen. Obwohl die Pflegeversicherung gerade eine Mammutreform hinter sich hat, muss sie sich weiterentwickeln und den Pflegenden zeitgemäße Unterstützung bieten. Derzeit fördert die Pflegeversicherung „wohnumfeldverbessernde Maßnahmen“, etwa den Umbau der Dusche – nicht jedoch Smart-Home-Lösungen, die ebenfalls die Selbständigkeit im eigenen Zuhause verlängern und pflegende Angehörige entlasten könnten. Das sollte sich dringend ändern. Hinzu kommt: Wer dank Smart-Home länger zu Hause leben kann, erspart der Solidargemeinschaft Kosten für die Pflege im Heim.

GKV droht Digitalisierung zu verschlafen: mehr Tempo für digitale Lösungen

Nicht nur in der Pflege drängt die sinnvolle Nutzung der digitalen Chancen. Erfreulicherweise haben die Koalitionäre die Relevanz der Digitalisierung erkannt. Jetzt brauchen wir im Gesundheitssystem vor allem mehr Tempo – und Vertrauen in jene Akteure, die bereits Innovationskraft bewiesen haben und gleichzeitig zu höchsten Datenschutzstandards verpflichtet sind. Es geht für unser Gesundheitssystem nicht nur darum, international den Anschluss zu behalten. Wir müssen vielmehr die Chancen der digitalen Entwicklungen im Interesse der Versicherten nutzen – sonst tun es andere, wie zum Beispiel Unternehmen aus dem Silicon Valley.

Das können wir Krankenkassen auch. Die dafür nötigen Daten bekommen wir ohnehin für die Abrechnungen von Leistungen, wobei für uns höchste Datenschutzstandards gelten. Auf Basis dieser Routinedaten könnten wir unsere Angebote viel exakter an der Situation der einzelnen Versicherten ausrichten – Stichwort „Patientenorientierung“. Versicherten mit der Diagnose Depression oder Diabetes, die das möchten und dafür in Frage kommen, könnten wir ein zielgerichtetes digitales Versorgungsangebot vorschlagen. Wir könnten sie auch auf innovative Modellprojekte zu bestimmten Erkrankungen hinweisen. Am Ende entscheidet immer der Versicherte, ob er dieses Angebot annehmen möchte. Allein: Wir dürfen dies bislang – anders als Google & Co. – nicht oder nur sehr eingeschränkt.

Elektronische Gesundheitsakte: Vernetzung funktioniert nicht mit Insellösungen

Die zentrale „digitale Baustelle“ sehe ich in der Vernetzung im Gesundheitswesen durch die elektronische Gesundheitsakte (eGA). Die TK entwickelt derzeit mit der IBM Deutschland GmbH einen solchen Datentresor. Mit der digitalen Akte lassen sich Krankheits-, Diagnose- und Behandlungsgeschehen umfassend abbilden. Dabei gilt das Prinzip: Der Versicherte entscheidet, wer Zugriff auf seine Daten erhält. Und: Jeder kann frei wählen, ob er das Angebot nutzt. Eine solche eGA könnte bei Versicherten, die das wollen, einen in Bezug auf den Datenschutz fragwürdigen Status quo ablösen: Noch immer wandern täglich hochsensible Gesundheitsdaten – etwa Laborergebnisse – per Fax, E-Mail oder in Papierform von A nach B.

Mit der Vernetzung kommen wir allerdings nur gemeinsam voran – eben vernetzt. Deshalb sollten alle Kassen ihren Versicherten die elektronische Speicherung und Übermittlung ihrer Gesundheitsdaten in Form einer eGA verpflichtend anbieten. Um Insellösungen und Wettbewerbsbehinderungen auszuschließen, müssen technische Standards und Schnittstellen entsprechend definiert werden. Wer die Krankenkasse wechselt, soll seine Daten mitnehmen können.

Schieflage im Wettbewerb beseitigen

Auch eine nachhaltige Neugestaltung des Finanzausgleichs zwischen den Krankenkassen gehört auf die Agenda der Koalitionsverhandlungen. Der „morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich“ (kurz Morbi-RSA) soll verhindern, dass Kassen mit besonders vielen kranken oder besonders kranken Versicherten benachteiligt werden. Was prinzipiell gerecht und sinnvoll erscheint, verzerrt in der Praxis allerdings den Wettbewerb zwischen den Kassenarten. So bekommen einige Krankenkassen Jahr um Jahr deutlich mehr Geld, als sie für die Versorgung ihrer Versicherten wirklich brauchen. Die nächste Regierung ist gefordert, diese Schieflage so schnell wie möglich zu beseitigen – auch wenn das komplexe Thema wenig sexy für den öffentlichen Schlagabtausch rund um die Sondierungen daherkommt.

Entscheidend für eine Reform des Morbi-RSA ist das „Wie“: Der Kodier-Anreiz muss wegfallen, zudem müssen gleiche Aufsichtsbedingungen für alle Kassen gelten. Nur so kann es einen fairen Wettbewerb um die innovativste Versorgung und den besten Service unter gleichen Rahmenbedingungen und mit einer echten Wahlfreiheit geben.

Bisherige Maßnahmen greifen nicht

Dass bisherige Maßnahmen nicht greifen, zeigt eine Studie im Auftrag der TK: Sie kommt zu dem Ergebnis, dass trotz gesetzlichem Verbot die Krankenkasse weiterhin auf die Diagnosen der Patienten Einfluss nehmen.

Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats empfiehlt der Politik nun gar, statt der bisherigen 80 Diagnosen alle Diagnosen zu berücksichtigen. Die Folgen sind absehbar: Was der Politik und der Öffentlichkeit als „Zielgenauigkeit“ verkauft wird, öffnet Tür und Tor für weitere, sogar noch stärkere Einflussnahmen.

Vor dem Hintergrund dieser drängenden Aufgaben ist ein rasches Ende des politischen Stillstands umso wünschenswerter. Wir brauchen eine handlungsfähige Regierung, die Weitblick und Mut zu den notwendigen Reformen im Gesundheitssystem beweist.

Dieser Artikel erschien ursprünglich am 17.10.2017 und wurde am 10.01.2018 aktualisiert.



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