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Digitalisierung: „Wir unterschätzen die vielen Gestaltungs­chancen“

Deutschland hat ab 1. Juli 2020 die EU-Ratspräsidentschaft inne. Passend dazu erscheint nun das von TK-Vorstand Jens Baas herausgegebene Buch „Digitale Gesundheit in Europa“. Worum es darin geht – ein Interview.

Herr Dr. Baas, Deutschland hat ab 1. Juli 2020 die EU-Ratspräsidentschaft inne. Passend dazu erscheint nun das von Ihnen herausgegebene Buch „Digitale Gesundheit in Europa“. Aktuell bestimmt Corona aber die politische Agenda mehr als die Digitalisierung.

Natürlich hat die Corona-Pandemie die Agenda für die Ratspräsidentschaft verändert. Aber gerade die Pandemie hat doch gezeigt, dass die EU und die Digitalisierung für das Gesundheitswesen von zentraler Bedeutung sind. Ich gehe davon aus, dass Bundesgesundheitsminister Jens Spahn deshalb diese Themen im Rahmen der Präsidentschaft weiter voranbringen wird und würde mich freuen, wenn von dem Buch, zu dem er ein Grußwort beigesteuert hat, Anregungen ausgingen. Um es deutlich zu sagen: Die kommende EU-Ratspräsidentschaft ist für Deutschland eine Riesenchance, die dürfen wir nicht vergeben. Deutschland und Europa drohen bei der Digitalisierung gegenüber China und den USA ins Hintertreffen zu geraten. Hier besteht dringender Handlungsbedarf.

TK-Vorstand Dr. Jens Baas

Überschätzen Sie da nicht, was in einer solchen Ratspräsidentschaft an Weichenstellungen möglich ist?

Mein Eindruck ist, wir unterschätzen nach wie vor die Bedeutung und die vielen Gestaltungschancen, die die Digitalisierung für die Gesundheit der Menschen und für den Wirtschaftsstandort Europa bietet. Deutschland hat hier aufgrund seiner Größe und seines Selbstverständnisses als ein Motor Europas Verantwortung. Ich zitiere die für Gesundheit zu-ständige Generaldirektorin der EU-Kommission, Anne Bucher, die in ihrem Beitrag im Buch eine beeindruckende Agenda vorlegt: „Ich vertraue darauf, dass wir gleichermaßen auf Sie zählen können“ – gemeint sind wir Deutschen. Also: Ich bin sicher, dass Deutschland während seiner Ratspräsidentschaft der Digitalisierung des Gesundheitswesens nachhaltige Impulse geben wird.

Das klingt ja fast wie ein Hilferuf!

Das ist nicht einmal überinterpretiert. Der Europäische Rechnungshof hat sich mit den Anstrengungen der EU-Kommission bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen auseinandergesetzt und kommt zum Ergebnis, dass die ehrgeizigen Ziele nicht erreicht wurden, auch deshalb, weil die EU-Mitgliedsstaaten die Digitalisierung jeder für sich nach vorne getrieben haben, auch da, wo man von anderen hätte lernen können.

Und das wird sich jetzt ändern?

Das denke ich schon. Corona hat die Dringlichkeit von mehr Digitalisierung des Gesundheitswesens einer breiteren Öffentlichkeit bewusst gemacht. Nun ist es wichtig, dass die Digitalisierung des Gesundheitswesens nicht an der Landesgrenze endet. Zwei Schwerpunkte bieten sich an: Die Schaffung eines Europäischen Datenraumes mit gemeinsamen Standards und die Erarbeitung eines „Code of Conduct“ für die Nutzung der Daten.

Nun ist es wichtig, dass die Digitalisierung des Gesundheitswesens nicht an der Landesgrenze endet.

Das sind mit Blick auf Datenschutz und Datensicherheit zwei Großbaustellen. Ist Europa für den Ausbau der Digitalisierung überhaupt ausreichend aufgestellt?

Ja, auf alle Fälle! Zum einen haben wir mit der Europäischen Datenschutzgrundverordnung (EU-DSGV) eine gute und gemeinsame Grundlage. Ich sehe in ihr so etwas wie das Grundgesetz für die Digitalisierung Europas. Mit der EU-DSGV unterscheiden wir uns klar von den „Datenschutzkonzepten“ der USA und Chinas. In der EU ist der Patient der Herr seiner Daten, und er entscheidet, was mit ihnen passiert. Zum anderen: Die Corona-Pandemie zeigt, wie wichtig es ist, relevante Daten zu haben, um frühzeitig zu verstehen, was gerade passiert, und auch, um Therapien zu entwickeln. Insofern liegt auch in dieser Krise eine Chance.

Muss Corona also als Begründung für den Europäischen Datenraum herhalten?

Nein, der Europäische Datenraum stand schon lange vor Corona auf der Tagesordnung für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft. Die Pandemie hat aber bei vielen Menschen zu einem Umdenken geführt. Viele Menschen haben verstanden, dass Krankheitsbekämpfung mit den relevanten Daten einfach besser funktioniert. Deshalb zeigen wir im Buch Beispiele auf, bei denen schon heute kranke Menschen davon profitieren, dass Daten europaweit ausgetauscht werden und Spezialisten länderübergreifend zusammenarbeiten.

Weitere Infos

Zum Start der deutschen EU-Ratspräsidentschaft am 1. Juli blicken 59 Experten aus dem Gesundheitswesen auf die Digitalisierung in Europa. Wo stehen wir und was muss sich ändern? Zur Pressemitteilung mit Buchvorstellung geht es hier.

„Digitale Gesundheit in Europa – menschlich, vernetzt, nachhaltig“
Herausgeber: Dr. Jens Baas, mit einem Geleitwort von Jens Spahn
Verlag: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft

Das komplette Interview „Digitale Gesundheit in Europa“ mit Dr. Jens Baas ist nachzulesen in gpk – Gesellschaftspolitische Kommentare, Ausgabe Juni/Juli 2020.



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Silvia Wirth Silvia Wirth
Jessica Kneißler Jessica Kneißler
Katharina Lemke

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