Gewalt gegen Kinder hat viele Gesichter – dabei sind mit Gewalt nicht nur Schläge oder sexueller Missbrauch gemeint. Das Wohl von Kindern ist auch gefährdet, wenn sie angeschrien, klein gemacht, sozial isoliert oder ihnen Kontakte verboten werden. Kinderschutz ist aus Sicht von Dr. Bernd Herrmann, Oberarzt und Leiter des Bereichs Kinderschutz am Klinikum Kassel sowie Initiator der Kinderschutz-Tagung, eine interdisziplinäre Aufgabe. Deshalb sollten sämtliche Professionen, die sich mit Kinderschutz befassen, Verletzungen des Kindeswohls erkennen und bei einem Verdacht auf Misshandlung oder Vernachlässigung sinnvoll reagieren können. Fortbildungsangebote wie „Kinderschutz in der Medizin“ sorgen für Aufmerksamkeit und Aufklärung.
Herr Dr. Herrmann, sind Sie in der Corona-Pandemie in noch größerer Sorge um das psychische und körperliche Wohlergehen von Kindern als sonst?
Ja bin ich, auf jeden Fall!
Warum?
Die Befürchtung aller Kinderschutzfachleute ist, dass die Gefahr von Kindesmisshandlung, sexuellem Kindesmissbrauch und Vernachlässigung während der strengen Kontaktbeschränkungen im pandemiebedingten Lockdown zugenommen hat, aber wegen fehlender Außenkontakte viel weniger wahrgenommen wird und damit deutlich weniger Meldungen erfolgen. Belastbare Zahlen haben wir dazu aber bislang nicht, nur begründete Vermutungen und erste Trends.
Von welcher Seite kommen nach Ihrer Erfahrung die meisten Hinweise auf körperliche und seelische Misshandlungen bei Kindern?
Bei uns im Klinikum Kassel kommen die meisten Meldungen von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten und vom Jugendamt. Wir erhalten sie aber auch von der Polizei, seltener von Schulen und Kitas. Daneben gehen beim Jugendamt noch Hinweise von Verwandten, Bekannten und Nachbarn ein. Aus dem Gesundheitswesen stammen nur ca. sechs Prozent der Hinweise, was den von uns adressierten Schulungs- und Fortbildungsbedarf unterstreicht.
Warum sind die Folgen von körperlicher und seelischer Gewalt an Kindern so schwer zu diagnostizieren?
Weil sie – beispielsweise bei seelischer Gewalt – zum Teil nicht so einfach sichtbar sind und nur indirekt erschlossen werden können. Zum anderen hängt das Erkennen erheblich vom Ausbildungsstand der Person ab, die mit dem betroffenen Kind zu tun hat. Da hat sich zwar in den letzten Jahren einiges verbessert, aber von einer flächendeckenden zufriedenstellenden Ausbildung sind wir noch weit entfernt.
Was raten Sie Personen, die bei einem Kind eine Gefährdung vermuten?
Wer einen solchen Verdacht hat, sollte sich beim Jugendamt oder einer Fachberatungsstelle Rat holen, wie das Beobachtete zu bewerten ist und wie man am besten vorgehen kann. Auch wenn es nicht immer leicht erscheint: Nicht schweigen, nicht wegsehen! Es kann Lebenswege „retten“, wenn misshandelten Kindern und Jugendlichen geholfen wird.
Was waren für Sie die bedeutsamsten Erkenntnisse der diesjährigen Kinderschutz-Tagung?
Das waren die große Motivation, das Engagement und der Lernbedarf meiner Kolleginnen und Kollegen und vielen anderen Mitarbeitenden aus dem Gesundheitswesen. Außerdem die Hoffnung, dass eine fundierte Ausbildung tatsächlich etwas bewirken kann.
Wie kam es, dass Sie begonnen haben, sich so intensiv mit dem Thema Kinderschutz zu beschäftigen?
Ich bin als junger Assistenzarzt in den frühen 1990er-Jahren mit vermutlichen Misshandlungen in Kontakt gekommen und habe dabei die damalige kollektive Ahnungs- und Hilflosigkeit auch meiner Vorgesetzten erlebt. Dazu kam das völlige Fehlen von Konzepten im Umgang, aber auch der nahezu Mangel jeglicher deutscher medizinischer Fachliteratur zu diesem Thema. Daher wurden oft die Augen zugemacht. Das hat mich sehr betroffen gemacht und motiviert, in den USA zu hospitieren und mich weiterzubilden.